Kurz nach dem Mauerfall wird die 15-jährige Esther buchstäblich über Nacht aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen. Sie zieht mit ihren Eltern in die alte ostdeutsche Heimat ihres Vaters, um die dortige Zeugen-Jehovas-Gemeinde wieder aufzubauen. In Peterswalde erinnert sie alles an Sulamith, mit der sie seit Kindertagen etliche Stunden in der Versammlung, dem Heimbibelkreis und dem Missionsdienst in der Fußgängerzone verbracht hat. Doch eines Tages verliebte sich ihre beste Freundin in einen Weltjungen und zweifelte immer mehr an dem System, in dem sie aufgewachsen sind – bis plötzlich alles eskalierte. Was ist mit Sulamith geschehen? Diese Frage begleitet Esther nach Ostdeutschland und wird ihr Antrieb, mehr als nur ein Geheimnis aufzudecken.
Stefanie de Velasco gehörte selbst einmal den Zeugen Jehovas an, bis sie im Alter von 15 Jahren austrat. Der Roman soll jedoch ausdrücklich nicht autobiografisch verstanden werden. Trotzdem fließen natürlich auch persönliche Bezüge zu der Gemeinde mit ein. Dies äußert sich eher darin, wie der Roman erzählt wird: „Warum müssen ausgerechnet wir die Wahrheit kennen? Sie ist wie ein Fluch, dabei soll sie doch frei machen.“ Die Zeugen Jehovas beanspruchen für sich das Monopol auf die absolute Wahrheit, die sie an der Haustür verkünden, die zu kennen sie von den Weltmenschen unterscheidet.
In der Geschichte von Esther und Sulamith gibt es diese Wahrheit so nicht, sie wird verzerrt und versteckt gehalten, und hat man sie sich erst einmal zusammengebastelt, beginnt man auch schon wieder daran zu zweifeln, so dass man immer wieder auf die kleinen, wie zufällig im Text verstreuten, Details zurückkommt, man immer wieder hin- und herblättert und neue Parallelen und Verweise entdeckt. So endet das Lesevergnügen etwa nicht mit der letzten Seite, sondern hält noch lange danach an. Ich jedenfalls bin mir sicher, was mit Esther und Sulamith passiert ist. Fast sicher. Aber vielleicht muss ich das Buch einfach ein weiteres mal lesen.