Eine Frau sitzt in einem Verhörzimmer und erzählt ihre Geschichte. Nur eine verspiegelte Scheibe, hinter der vielleicht niemand sitzt, hört zu. Sie heißt Estela und berichtet von ihrem Leben als Hausangestellte bei einer wohlhabenden Familie aus Santiago de Chile. Sie erzählt von ihrer Einstellung, von der kleinen Kammer, in der sie viele Jahre verbrachte, und von den subtilen Erniedrigungen dieses Arrangements. Aber auch von den vielen Erniedrigungen, die sie direkt durch die Familie erfährt, für die sie arbeitet.
Den abwesenden Vater mit autoritären Zügen, die ehrgeizige, kontrollierende Mutter und die wohlstandsverwahrloste Tochter, zu der Estela eine komplizierte Beziehung, geprägt von verletzlicher Intimität und schmerzhaftem Machtgefälle, führt. Diese unüberbrückbaren Klassenunterschiede und Wunden der Ausbeutung verbinden sich mit einer großen Frage, die direkt zum Anfang des Romans gestellt wird. Wie ist die Tochter der Familie ums Leben gekommen? Alia Trabucco Zerán ist mit Mein Name ist Estela ein wuchtiger, unerträglicher Klassenroman gelungen.
Mich hat das Buch mit Wut und Trauer zurückgelassen, aber auch mit einem gesteigerten Verständnis der Mechaniken der Ausbeutung und ihrer psychologischen Folgen. Die Ereignisse strudeln so schön, wie ich es selten gelesen habe, und bleiben immer real. Kein großer Ausbruch wird gewagt, keine radikale Änderung ihrer Umstände gelingt Estela. Sie fällt einfach in eine schreckliche Dynamik, und Zerán versteht es bestens, eben diese kunstvoll abzubilden. Ein großartiger Text, der niemanden kaltlassen wird.