Ein Tipp von Verena:

Sasha, ein junger Russe Anfang 30, steht vor den Trümmern seines Lebens, die er sich nur sehr mühsam als Neuanfang und „Alles ist möglich“ zu verkaufen versucht. Nach einer erst nicht näher benannten privaten Katastrophe ist er aus Russland nach Minsk geflohen und in einer grauen kargen Einzimmerwohnung gestrandet. Als er an seinem ersten Abend mit den Einkäufen nach Hause kommt, endeckt er ein mit Kreide gezeichnetes rotes Kreuz an seiner Wohnungstür, das er genervt versucht zu entfernen. Gestört wird er dabei von seiner neuen Nachbarin, die, 90-jährig, vor kurzem die Diagnose Alzheimer erhalten hat und mittels der roten Kreuze versucht, den Weg in ihre Wohnung zu markieren. 
Ohne seinen, sehr offen zur Schau getragenen, Widerwillen zu beachten, nötigt sie ihn mehr oder weniger in ihre Wohnung und beginnt ohne Einleitung, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen, die 1910 mit ihrer Geburt in London beginnt und mit kurzen Umwegen kreuz und quer durchs Vorkriegs-Europa mitten in die Wirren der sowjetischen Geschichte führt. 
„Rote Kreuze“ ist das Debüt des 1984 geborenen Sasha Filipenko und dieser Roman kann einfach alles! Zum einen schafft er das scheinbar Unmögliche, nämlich ein komplettes Jahrhundert bewegte russische Geschichte mit der Lebensgeschichte zweier Protagonist*innen, die auch noch 60 Jahre Altersunterschied aufweisen, zu verknüpfen. Außerdem vermittelt er, ohne je kitschig zu werden, das Schicksal zweier Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen an einem persönlichen Tiefpunkt in ihrem Leben angekommen sind. Und nicht zuletzt ist dieses Buch die Geschichte einer sehr unwahrscheinlichen Freundschaft zwischen zwei störrischen Eigenbrötlern, die sich mitnichten gesucht aber Gott sei Dank gefunden haben.
Ich habe jede der knapp 300 Seiten verschlungen, denn trotz aller Schwere und Schicksalsschläge schafft es Filipenko mit einer sprachlichen Leichtigkeit, nie ins Tragische oder Hoffnungslose zu rutschen. Eine meiner lieb-sten Entdeckungen des bisherigen Jahres!