Wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand da ist, der es hören kann, ist dann trotzdem ein Geräusch da? Ich würde sagen ja, aber was ist, wenn ein ehemaliger Agentur-Typ, der mit der Kunstbetrieb gebrochen hat, im Hinterland ein großes Werk aus Papier baut und niemand es sieht? Ist es dann trotzdem Kunst? Das war nur eine der Fragen, die Magdalena Saigers Roman Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes, bei mir aufgeworfen haben.
Enttäuscht und aufgebraucht von der Sinnleere und Entfremdung, die der namenlose Erzähler dieser Geschichte erfahren muss, wendet er sich ab von der Zivilisation und stürzt sich wie besessen und ohne Rücksicht auf sich selbst in ein großes Projekt. Der Ort, den er dafür wählt, ist ein Grenzbereich, der Rest eines verlassenen Dorfes, vor ein paar Jahren hinabgerissen in die inzwischen stillgelegte Kohlegrube. Nur Giacometti ist übrig und bewacht seine verschwundene Heimat, vertreibt Eindringlinge, erzählt Geschichten am Lagerfeuer und teilt sich lauwarmen Dosenfraß mit dem Protagonisten. Was ihr nicht seht ist eine Geschichte, erzählt in den Marginalien, erzählt von Menschen, die sich verbrannt haben, an der Grausamkeit des Systems, oder ihrer eigenen seelischen Versehrtheit, erzählt durch ein distanziertes Protokoll, welches nicht einmal für unsere Augen bestimmt gewesen ist.
In eingestreuten Notizen lernt man viel über Labyrinthe, denn das baut er und Papier, denn damit baut er. Auf 168 Seiten schlägt Saiger so konsequent und methodisch ihren Handlungsbogen, man schweift ganz automatisch hinein. Nicht nur wollte ich unbedingt wissen, wo das alles hinführt, jede Seite hatte für mich eine angenehme Logik, ein System, das schwierig in Worte zu fassen ist. Volle Leseempfehlung von mir, für alle, die sich kritisch mit Kunst auseinandersetzen, alle die Papiere oder Labyrinthe interessant finden und alle, die sich mit einer Flasche Aquavit an den Rand einer Kohlegrube setzen und über die Leere nachdenken möchten.