WestEnd 1/2019: Helfen zwischen Solidarität und Wohltätigkeit

Neue Zeitschrift für Sozialforschung, WestEnd 29

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593510583
Sprache: Deutsch
Umfang: 187 S.
Format (T/L/B): 1.7 x 24 x 17 cm
Auflage: 1. Auflage 2019
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

In Anlehnung an die berühmte 'Zeitschrift für Sozialforschung' (1932 - 1941) verfolgt auch ihre seit 2004 halbjährlich erscheinende Nachfolgerin 'WestEnd' den Anspruch einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Zur Veröffentlichung kommen Aufsätze und Essays aus Soziologie, Philosophie, politischer Theorie, Ästhetik, Geschichte, Entwicklungspsychologie, Rechtswissenschaft und politischer Ökonomie. Neben den Rubriken 'Studien' und 'Eingriffe' behandelt jedes Heft ein Schwerpunktthema. In Not Geratenen zu helfen wird zwar weithin gelobt, aber auch als zu wenig, zu unpolitisch, zu parteiisch, zu paternalistisch, zu emotional oder als zu ineffektiv kritisiert. Im Stichwort wird das Helfen aus der Perspektive der Soziologie, der Anthropologie und der Politischen Theorie in seinen Ambivalenzen und Paradoxien diskutiert: Welche Reziprozitätserwartungen hegen Helferinnen? Schafft das Helfen nicht eine symbolische Ungleichheit zwischen Helfern und Hilfsempfängerinnen? In welchen Fällen bildet das Helfen eine kritische Praxis und welche unintendierten Nebenfolgen hat es? Welche Affekte bewegen die Helfer und mit welchen Modi des Helfens stehen sie in Verbindung? Wohltätiges Helfen umfasst nur den Akt des Gebens, solidarisches Helfen dagegen setzt Reziprozität und Vergemeinschaftung voraus. Wie aber kann Gegenseitigkeit zwischen Helferinnen und Hilfsempfängern mit sehr ungleicher Ressourcenausstattung gelingen? Inhalt: Studien Didier Fassin: Der lange Atem der Kritik Nina Fischer: Literatur als kultureller Widerstand. Palästinabilder aus der Diaspora Lutz Wingert: Zwischen opportunistischer Anpassung und kontemplativer Klage? Politische Philosophie in einer nicht-idealen Welt Stichwort: Helfen zwischen Solidarität und Wohltätigkeit, hg. von Greta Wagner Frank Adloff: Ambivalenzen des Gebens. Hilfe zwischen Hierarchie und Solidarität Serhat Karakayali: Helfen, Begründen, Empfinden. Zur emotionstheoretischen Dimension von Solidarität Christine Unrau: 'Your position?' - Zeigen, Erzählen und Geben in Fuocoammare Isabell Trommer und Greta Wagner: Mitleid und Krise. Zur Aufnahme von Flüchtlingen in der Bundesrepublik Eingriffe AnneClaire Defossez und Didier Fassin: Eine unwahrscheinliche Bewegung? Macrons Frankreich und der Aufstieg der Gilets Jaunes Axel Honneth: Die moralische Geburt des französischen Strukturalismus. Zu Claude Lévi-Strauss Traurigen Tropen Wolfgang Seifert: Entfernte Verwandte? Masao Maruyama und Franz Neumann zu 'Ultranationalismus' und Nationalsozialismus Mitteilungen aus dem IfS Bericht: 'LinksVerkehr' - eine Veranstaltungsreihe über 1968 in Marburg und Frankfurt/M. Neues Forschungsprojekt: Flucht aus der Freiheit. Der Weg junger Männer in den Dschihadismus Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2019

Autorenportrait

Herausgegeben vom Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main.

Leseprobe

Der lange Atem der Kritik In unseren Tagen steht Kritik allem Anschein nach unter Beschuss, und sowohl unter Intellektuellen und Wissenschaftlern als auch unter Zeitungskolumnisten und Politikern ist Kritik an der Kritik zu einer verbreiteten Praxis geworden.1 In Anbetracht der Zwänge von außen sowie der Angriffe von innen, denen die Humanwissenschaften derzeit unterliegen, und wenn man außerdem der Abneigung gegen Kritiker und deren Unzuverlässigkeit innerhalb der akademischen Institutionen Rechnung trägt, stellt sich sogar die Frage, ob die Kritik nicht in eine kritische Lage geraten ist. Es könnte mit anderen Worten nicht nur sein, dass die Kritik Kritik erfährt, sondern sich auch in einer Krise befindet. Dies ist zwar sicherlich weder zum ersten noch zum letzten Mal der Fall - man kann solche historischen Phasen in Anlehnung an Albert Hirschmans Ausdrucksweise als 'Zeiten der Reaktion' bezeichnen -, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, worin die Besonderheit der gegenwärtigen Situation besteht und welche spezifische Bedeutung sie hat: Warum wird die Kritik kritisiert, und warum geschieht das gerade jetzt? Wie es in dem Ausspruch heißt, der wahrscheinlich fälschlicherweise auf Winston Churchill zurückgeführt wird, soll man allerdings eine gute Krise niemals ungenutzt verstreichen lassen. Ein entschiedener Streit um die Kritik und ihr möglicher Niedergang können als Gelegenheit für eine fruchtbare Debatte begriffen werden, die sowohl in den Humanwissenschaften als auch in der Öffentlichkeit neue Perspektiven eröffnet. Und unter Berufung auf eine Redewendung, die in diesem Fall zu Recht John Locke zugeschrieben wird, sind Veränderungen immer durch irgendeine Form von Unsicherheit motiviert. Deshalb möchte ich das Unbehagen im Hinblick auf Kritik zum Anlass für ihre Neubewertung nehmen. Meinen Überlegungen liegt folgender Gedanke zugrunde: Kritik ist keine belagerte Festung, die man verteidigen, sondern ein brachliegendes Land, das kontinuierlich neu bestellt werden muss. Wenn man sie richtig versteht, angemessen auf sie reagiert und ihr entsprechend entgegentritt, kann die gegen die Kritik gerichtete Kritik deren Funktion verdeutlichen und ihre Legitimität erhöhen. Der mehrdeutige Ausdruck des 'langen Atems' in meinem Titel soll nämlich gleichzeitig bedeuten, dass die Kritik wiederholt Prüfungen über sich ergehen lassen muss, dass sie ihnen geduldig standhält und sie übersteht. Diese Sachlage trifft auf die Geistes- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen zu, hat aber in der Anthropologie bestimmte Eigentümlichkeiten ausgebildet. Diese Eigentümlichkeiten möchte ich näher untersuchen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass sie Teil eines umfassenderen Bildes sind. Bei diesen Auseinandersetzungen stehen der Stellenwert, die Rolle und die Form der Kritik selbst auf dem Spiel, weshalb gründlich über sie nachgedacht werden muss. Im Rahmen meiner Analyse der Kritik und ihres aktuellen Schicksals werde ich zunächst einige der Argumente herausarbeiten, die häufig gegen sie vorgebracht werden, und dabei eine einflussreiche, in Form einer Todesanzeige verfasste Einlassung zum Ausgangspunkt nehmen; danach werde ich versuchen, den Begriff der Kritik zu klären und zwei wichtige Strömungen zu unterscheiden, kritische Theorie und Genealogie, die sich meiner Ansicht nach in anthropologischen Untersuchungen miteinander verbinden lassen; und schließlich werde ich drittens zwei sich widerstreitende Auffassungen gegenüberstellen, kritische Soziologie und Soziologie der Kritik, wobei sich zeigt, dass die Ethnografie diese Kontroverse unbedingt hinter sich lassen muss. Bei der Darlegung dieser Punkte werde ich größtenteils aus dem einfachen Grund auf meine eigene Forschung zurückgreifen, weil sie die Fragen und Probleme konkret veranschaulicht, denen ich bei meinen Bemühungen gegenüberstand, mich den verschiedenartigen Themen, über die ich gearbeitet habe, mit Hilfe eines kritischen Ansatzes zu nähern. Mein Hauptargument lautet, dass