WestEnd 2015/1: Ethik im Finanzsystem?

Neue Zeitschrift für Sozialforschung, WestEnd 22

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593503219
Sprache: Deutsch
Umfang: 192 S.
Format (T/L/B): 1.3 x 24.2 x 17.2 cm
Auflage: 1. Auflage 2015
Einband: Paperback

Beschreibung

In Anlehnung an die berühmte 'Zeitschrift für Sozialforschung' (1932 - 1941) verfolgt auch ihre seit 2004 halbjährlich erscheinende Nachfolgerin 'WestEnd' den Anspruch einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Zur Veröffentlichung kommen Aufsätze und Essays aus Soziologie, Philosophie, politischer Theorie, Ästhetik, Geschichte, Entwicklungspsychologie, Rechtswissenschaft und politischer Ökonomie. Neben den Rubriken 'Studien' und 'Eingriffe' behandelt jedes Heft ein Schwerpunktthema. 'Ethik im Finanzsystem' kann einerseits die gesetzlich verankerte moralische Einbettung des Finanzsystems bezeichnen, andererseits moralische Motivationen und Deutungsmuster von Individuen oder Gruppen im Finanzsystem. Die aktuelle Ausgabe von 'WestEnd' fragt nach der Berufsmoral von Bankern, untersucht eine Reihe von 'ethischen' Banken, die das Selbstbild einer moralischen Avantgarde pflegen, und beleuchtet kritisch Anspruch und Wirklichkeit der 'Äquator-Prinzipien', eines selbst gesetzten ethischen Rahmenwerks zum Schutz von Menschenrechten in internationalen Finanzkonsortien.

Leseprobe

Robert Brandom Den Abgrund reflektieren. Vernunft, Genealogie und die Hermeneutik des Edelmuts Ein Metanarrativ: Von der Entzauberung zur Desillusionierung "Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an" (Hegel 1986 [1830]: 23), sagt Hegel. "Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein" (Nietzsche 2007 [1886]: Aph. 146), sagt, mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, Nietzsche. In Gestalt gnomischer Aphorismen bringen die zueinander spiegelbildlichen Passagen Stimmungen zum Ausdruck, die die äußersten Punkte eines Bogens markieren, der das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts umspannt. Hegels frohe Botschaft artikuliert den Optimismus seiner Version des aufklärerischen Rationalismus, der im Jahrhundert zuvor seine Blütezeit erlebt hatte. Die düstere Bemerkung Nietzsches dagegen kündet bereits vom Pessimismus jenes im reduktiven Materialismus wurzelnden Nihilismus, den die Ereignisse des folgenden Jahrhunderts so vertraut und passend erscheinen lassen sollten. Beide Denkströmungen des 19. Jahrhunderts, die eine zurückblickend auf das, was bereits verstanden war, die andere vorausdeutend auf das, womit es noch fertig zu werden galt, beinhalten eine je eigene rationalisierende Fortschrittserzählung: Die erste handelt von der Entzauberung durch, die zweite von der Desillusionierung über die Vernunft. Für das Selbstverständnis der Aufklärung ist es stets wesentlich gewesen, sich als Anbruch von etwas zu begreifen, das genuin neu und seinem Wesen nach fortschrittlich ist. Sie definierte sich durch den Kontrast zwischen dem Licht der Vernunft, dessen Suche, Entfaltung und Feier sie selbst war, und dem Dunkel, dem sie abgerungen, von dem sie aber noch immer umgeben war und durch das sie stets bedroht bleiben würde: dem Schatten des Aberglaubens, des Vorurteils und des Dogmatismus, geworfen von einer despotischen Willkürherrschaft, die in Institutionen sedimentiert war, die durch nichts weiter als Tradition begründet und mit den in ihnen gedeihenden Denkgewohnheiten verschworen waren. Die fundamentale begriffliche Neuerung jener Zeit lag nicht in der Hinwendung zur Vernunft als solcher. Philosophie, die sich auf Sokrates beruft, ist seit jeher Sachwalterin und Verfechterin der Vernunft gewesen. Auch ist es keineswegs neu, Vernunft mit Freiheit zu assoziieren. So lehrt bereits die christliche Tradition in der Gestalt von Johannes: "[Ihr] werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." Das völlig Neue an der Philosophie der Aufklärung, die für sie charakteristische Einsicht, besteht darin, diese transformative emanzipatorische Kraft mit der Vernunft in ihrer kritischen Funktion zu identifizieren. Die einzige Autorität, die sie als legitim und legitimierend anerkennt, ist die Autorität des besseren Arguments - diese sonderbare normative Kraft, zwingend allein für das Rationale, die die Griechen so sehr fasziniert und verwirrt hat. Und die Aufklärung akzeptiert keine höhere Instanz zur Beurteilung konkurrierender Begründungen als das "natürliche Licht", mit dem jedes einzelne denkende Subjekt kraft seiner Fähigkeiten ausgestattet ist. Deshalb sagt Kant in seinem Aufsatz, in dem er die Aufklärung mit dem "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" gleichsetzt: "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! - ist also der Wahlspruch der Aufklärung." (Kant 1913 [1784]: 169) Der Anbruch eines Zeitalters, in dem die Individuen keine Autorität jenseits ihrer eigenen Fähigkeit zur rationalen Beurteilung von Gründen anerkennen, ist für Kant, der hier im Namen der gesamten Aufklärung spricht, nichts weniger als das Mündigwerden der Menschheit. Diese Emanzipation (wörtlich: im römischen Recht der Prozess, durch den Kinder von der patria potestas befreit werden) bedarf einer umfassenden Ersetzung des traditionellen Modells der Autorität, das diese ausschließlich im Sinne des Gehorsams versteht,