Beschreibung
Ich bin 16 Jahre alt und das, was man ein körperlich schwer behindertes Kind nennt. Ich kann nicht sprechen und meinen Körper kann ich nicht so bewegen, wie ich es gerne tun wurde. Das macht es immer sehr schwer. Ich muss mich immer darauf verlassen, dass die Menschen, die bei mir sind, gut aufpassen, ob ich auch gut sitze oder liege. Manchmal wurde ich gerne mit meinem Körper davonlaufen, das geht aber nicht. Oft ist es sehr schwer fur mich, weil mich viele als ein körperlich behindertes Mädchen sehen, das ganz klar auch geistig behindert sein muss. Ich war immer gierig nach Buchstaben und Zahlen, aber das wusste niemand, bis Mama angefangen hat, mit mir Buchstaben und Wörter zu lernen. Sie hat meine Freude bemerkt und immer weitergemacht.
Leseprobe
Ich bin 16 Jahre alt und das, was man ein körperlich schwer behindertes Kind nennt. Ich kann nicht sprechen und meinen Körper kann ich nicht so bewegen, wie ich es gerne tun würde. Das macht es immer sehr schwer. Ich muss mich immer darauf verlassen, dass die Menschen, die bei mir sind, gut aufpassen, ob ich auch gut sitze oder liege. Manchmal würde ich gerne mit meinem Körper davonlaufen, das geht aber nicht. Oft ist es sehr schwer für mich, weil mich viele als ein körperlich behindertes Mädchen sehen, das ganz klar auch geistig behindert sein muss. Ich war immer gierig nach Buchstaben und Zahlen, aber das wusste niemand, bis Mama angefangen hat, mit mir Buchstaben und Wörter zu lernen. Sie hat meine Freude bemerkt und immer weitergemacht. Ich konnte mir alles gut merken. Auch die Wörter, die überall bei uns in der Wohnung hingen, haben mir sehr geholfen. Bald konnte ich die Wörter lesen, und so habe ich auch langsam andere Wörter gelernt. Auch weil mir immer viel vorgelesen wurde, konnte ich mitlesen und üben. So wurde mein Wortschatz riesengroß. Aber niemand wusste, wie gut ich es konnte. Auch konnte ich keine Fragen stellen. Ich musste warten, bis jemand die Türe zu mir fand. Ich musste geduldig sein - ich war geduldig! Es gab viele Gedanken, die mir den Mut genommen und mich sehr traurig gemacht haben. Aber am meisten war ich besorgt: Was, wenn die Türe zu mir niemals gefunden wird? Würde ich das ertragen können? Eigentlich hatte ich mich auf die Schule gefreut, ich wollte immer viel lernen. Das war eine große Erwartung von mir an die Schule. Umso mehr war ich enttäuscht, als ich bemerkte, dass die Lehrer sich nicht darum bemühen, uns das Lesen und Schreiben beizubringen. Die Zeit verging ungenutzt. Mir war klar, dass in dieser Schule, in der ich war, niemand meine Türe finden würde. Immer konnte ich niemandem erzählen, was in mir vorging. Ich war verzweifelt und die Lage war hoffnungslos für mich. Ich war mit mir allein und niemand konnte zu mir herein. Eingesperrt, in mir allein. Es war sehr einsam mit mir so ganz allein. Meine Familie ist und war immer sehr besorgt, sonst wäre ich verrückt geworden. Es war so, wie wenn man durch eine Scheibe alles beobachten und schreien kann, aber niemand hört einen. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, so allein zu sein. Viele Ängste kann ich erst, jetzt wo ich darüber schreiben kann, verarbeiten. Nun kann ich meine Gefühle benennen und anschauen. Angst hatte ich sehr oft. Sie hat mich manchmal fast aufgefressen. Das kann man sich so vorstellen, wie wenn am Tag das Licht ausgeht. Ich konnte ja niemandem davon erzählen. Die Angst war auch in mir eingesperrt. Ich hatte nachts oft scheußliche Träume, die mich nicht schlafen ließen. Jeder kann etwas richtig gut, aber man muss die Möglichkeit bekommen, es herauszufinden. Es war bei mir auch nicht einfach. Wir brauchten sehr viel Geduld miteinander, denn Mama wusste nicht, was ich schon alles konnte, und ich machte gerne die Übungen mit, obwohl ich alles schon längst beherrschte. Ich wusste nicht, ob Mama die Türe finden würde. Ab Januar 2020 war für mich eine aufregende Zeit, weil ich wusste, wir sind nah dran. SO LERNTE ICH DAS SCHREIBEN - die Tür öffnet sich Es war so, dass ich in der Ergotherapie gelernt habe, mit den Armen rechts und links zu zeigen. Das hat schnell geklappt. Dann hat Mama mir mit Buchstaben und Wörtern verschiedene Aufgaben gestellt, die ich mit den Armen beantworten konnte. Der rechte Arm für ja, der linke für nein. So konnte ich schon zeigen, dass ich Wörter lesen und zuordnen konnte. In der Musiktherapie haben wir mit verschiedenen Instrumenten die Armbewegungen im regelmäßigen Rhythmus gut trainiert. Ich lernte verschiedene Lieder zu begleiten. Es hat mir großen Spaß gemacht. Anfangs hat Mama meine Bewegungen geführt. Später konnte ich die Armbewegungen fast selber. Dadurch sind die Bewegungen sicherer geworden. Es ist aber so, dass ich immer jemanden brauche, der mir hilft, die Bewegung zu verstärken und um die Klangbausteine zu treffen. Der Bewegungsimpuls kommt aber immer von mir. Nur selber etwas sagen, das konnte ich immer noch nicht. Aber ich weiß noch gut, als ich dann mit Mama im August 2020 an einem Onlineseminar teilgenommen habe. Mama war mal wieder auf der Suche, wie sie mit mir weitermachen könnte. Sie war sich jetzt sicher, dass ich alle Buchstaben beherrschen würde. Ich war sehr gespannt, ob es uns was bringen würde. Danach organisierte Mama Buchstabenstempel. Die Buchstaben auf Farben aufzuteilen war eine Idee der Referentin. Wie ich jetzt die einzelnen Buchstaben auswählen sollte, das musste Mama noch überlegen. Ich war ziemlich nervös. Als sie fertig war mit überlegen, kam sie mit fünf Farbkarten an. Dann war es so weit, wir haben zusammen Lilly geschrieben. Mama hat sich hinter mich gesetzt, ich musste beide Arme anwinkeln. Zuerst las mir Mama die Farben vor. Ich wählte durch Herunterdrücken des Arms aus. Dann kamen die Buchstaben dran, die auf dieser ausgewählten Farbtafel standen. Sie las mir alle vor und ich wählte und streckte den Arm aus. Mama suchte dann den passenden Stempel und drückte ihn auf ein Blatt. So setzte sie geduldig Buchstabe für Buchstabe auf das Papier. Das System hatte ich sofort verstanden. Jetzt war ich dran. Ich musste zeigen, dass ich schreiben kann. Mein erster Satz, den ich geschrieben habe war: Oma Gabi ist da. Es war wie ein Traum. Meine Türe stand einen Spalt auf, und ein kleiner Lichtstrahl schien in mein Herz. Meine Freude war riesengroß, am liebsten hätte ich gleich weitergeschrieben. Aber Mama meinte, für heute würde es reichen. Am nächsten Tag ging es zum Glück weiter. Als nächstes schrieb ich für Brigitte auf, welche Instrumente ich spielen wollte. Das war auch kein Problem. Dann stempelte ich meinen ersten Brief, den ich Brigitte für den Doktor mitgab. Ich hatte einen Riesenspaß, den zu schreiben. Du Spaßvogel habe ich geschrieben. Ich war mir sicher, dass er nicht böse auf mich sein wird, obwohl das schon ein bisschen frech war. Aber er hat nur gelacht und dann vor Freude geweint. Immer war ich aufgeregt und dann, als das Schreibsystem fertig war, konnte ich endlich sagen, was ich will. Das war ein großartiges Gefühl in mir. Es war ein unglaublich, freudiges durcheinander, ein Regenbogen voller Hoffnungsfarben in mir. Schnell sind uns die Stempel zu umständlich geworden und Mama hat immer mitgeschrieben. Ich konnte die Buchstabentafeln fix auswendig. Ich schrieb erste Geschichten und Gedichte und was wichtig ist. Dann merkte ich, wie es mir guttat, wenn ich auch mitreden kann und nicht nur Ja und Nein durch Augenzwinkern, sagen kann. Seit ich schreiben kann, geht es mir besser. Inzwischen können Mama und ich schon sehr schnell schreiben. ICH MÖCHTE EUCH SO VIEL SAGEN - die Türe steht jetzt weit offen Die Türe zu mir ist also jetzt offen. Welch ein Glück, welch ein Geschenk. Ich bin sehr glücklich und dankbar, das Warten all die Jahre hat sich gelohnt. Das war vor drei Jahren, ich war 13 Jahre eingesperrt. Immer habe ich was zu sagen. Aber noch muss immer meine Mama oder meine Schwester da sein, die mit mir schreibt. Lesen kann ich schon länger. Auch das wusste niemand. Das konnte ich jetzt auch zeigen. Ich konnte Fragen zu Texten oder Geschichten beantworten. Ich kann jetzt gut erzählen, wie ich die Welt um mich wahrnehme und auch die Musik. Ich mag Musik. Sie kann meine Seele ein wenig streicheln. Ich will den Rhythmus ganz genau spüren. Er gibt mir etwas, daran kann ich mich festhalten. Das ist ein Gefühl, wie wenn mich jemand hält. Die gleichmäßigen Töne mag ich gerne selber spielen. Es gibt mir auch Sicherheit. Musik ist ein Tor, durch das ich in andere Welten sehen kann. Da bin ich leicht wie eine Feder und kann meinen störrischen Körper zurücklassen. Ich tanze auf einer weichen Wolke. Ich kann ganz frei sein und fühle mich wohl. Es ist ja so, dass es für mich sehr sc...
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