Dorthin, wo der Tag anbricht - Cover

Dorthin, wo der Tag anbricht

Roman, Kleine Auszeit

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783963621314
Sprache: Deutsch
Umfang: 171 S.
Format (T/L/B): 2 x 19.5 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Leseprobe

Kapitel 1 November 1897 Manchmal reichen zehn Sekunden, um den Lauf eines Lebens zu verändern. Diese Lektion hatte Julia Broeder letzte Woche auf schmerzhafte Art lernen müssen, als eine impulsive Entscheidung eine Kette von Ereignissen losgetreten hatte. Dass sie jetzt auf dieser harten Bank vor dem Konferenzraum der medizinischen Fakultät für Frauen am College von Pennsylvania wartete, war das Resultat davon. Hinter der geschlossenen Tür des Konferenzzimmers saßen zwölf Personen, die in diesem Moment über Julias Schicksal entschieden. Entweder bekäme sie die Erlaubnis, ihr Studium fortzusetzen und es im Frühling als Ärztin abzuschließen, oder sie würde von der Fakultät verwiesen und in Schande nach Hause geschickt werden. Dekanin Edith Kreutzer war eine bekannte Wegbereiterin in dem Kampf, dass Frauen für den Arztberuf zugelassen wurden. Heute Morgen hatte sie allerdings so kalt wie eine Eiskönigin ausgesehen, als sie das Kuratorium des Colleges einberief, um über Julias Zukunft zu entscheiden. Julia verkrampfte die Finger um die Kante der harten Bank, dem einzigen Möbelstück in dem kleinen Vorraum vor dem Konferenzzimmer. Alles in ihr drängte danach, aufzustehen und ihr Ohr an die vertäfelte Tür zu drücken, um die Diskussion des Kuratoriums zu belauschen. Doch sie zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben. Sie konnte nichts tun, um die Entscheidung zu beeinflussen. Es spielte keine Rolle, dass sie unbedingt Ärztin werden wollte. Oder dass sie zu den Besten ihres Jahrgangs gehörte und dass ihr Herz dafür schlug, in die weite Welt hinauszuziehen und in armen Gegenden als Ärztin zu arbeiten. Das Einzige, was zählte, war das, was sie letztes Wochenende getan hatte. Am Samstagmorgen hatten die ganzen Schwierigkeiten begonnen: Wie an jedem Samstag arbeitete sie zusammen mit sechs anderen Medizinstudentinnen im Pharmazielabor der Fakultät. Als Teil ihrer Seminararbeit in Pharmakologie stellte sie Cinchonintabletten gegen Malaria her. Sie mahlte das Pulver, bis es die richtige Konsistenz besaß, und füllte das Medikament in winzige Aluminiumförmchen. Vor dem Fenster ertönten dumpfe Geräusche, denen sie zunächst keine Beachtung schenkte. Dann jedoch trafen mehrere Kieselsteine die Glasscheibe und erregten ihre Aufmerksamkeit. Als sie hinausblickte, entdeckte sie zwei junge Männer, die unter ihr in dem matschigen Hof standen. Julia kannte sie aus dem Fairmount Park, wo sie und einige andere Studentinnen bei gutem Wetter manchmal Tennis spielten und im Winter eisliefen. Die beiden arbeiteten bei der Feuerwehr von Philadelphia und schienen anständige junge Männer zu sein. Ross McKinney hatte einen schönen Schlitten, den er ihr oft auslieh, damit sie damit den Hang hinabsausen konnte, wenn genug Schnee lag. Sie schob das Fenster hoch. Eiskalte Luft strömte ins Zimmer, als sie sich hinausbeugte. 'Wenn ihr noch mehr Steine an diese Fensterscheibe werft, entwickle ich den Verdacht, dass ihr zu diesen ermüdenden Revolutionären gehört, die mit dem Säbel rasseln und drohen, die Mauern zu stürmen.' Keiner der Männer lachte. Einer von ihnen hielt einen Hund auf den Armen. Selbst von ihrem Platz im ersten Stockwerk aus konnte sie sehen, dass das Tier übel zugerichtet war. 'Ich bin gleich unten', sagte sie und knallte das Fenster so schwungvoll zu, dass das Glas klirrte. Die Hündin, die die jungen Männer bei sich hatten, war ein Boston-Terrier. Eines ihrer Ohren war teilweise abgerissen und ihr ganzer Kopf war voller Bisswunden. Julia hätte am liebsten das Gesicht verzogen und weggeblickt, aber diesen Luxus konnte sie sich als angehende Ärztin nicht erlauben. 'Haben Sie irgendwelche Tabletten, die das wieder in Ordnung bringen, Miss Broeder?', fragte Ross. Um dieser Hündin zu helfen, würde mehr nötig sein als ein paar Tabletten. Das Ohr musste mit mehreren Stichen wieder angenäht werden und selbst dann war Julia sich nicht sicher, ob sie es retten konnte. Es war Samstag, der Operationssaal in der Olsen Hall müsste also frei sein. Der