Tessiner Horizonte - Momenti ticinesi

Dt/ital, Edition Blau

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783858699220
Sprache: Deutsch
Umfang: 128 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 22 x 15 cm
Auflage: 1. Auflage 2021
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Ein Dorf, eingebettet in die Linien der Berge, klebt am Hang, sein Kirchturm ragt wie eine Kerze in die Höhe - eine Spannung zwischen Horizontale und Vertikale, ein typischer Tessiner Moment. Fabio Andina, der uns aus seinem Roman Tage mit Felice als genauer und sinnlicher Beobachter der Natur und des Dorflebens in Erinnerung ist, widmet sein neues Buch den kleinen großen Momenten im Tessin: das erste Morgenlicht, der laut rauschende Gebirgsbach, die Schwere einer Kuh im Gras und ein Dachziegel, der seit dem letzten Winter herunterzufallen droht. Wir entdecken mit dem Autor vierundsiebzig Hirsche am gegenüberliegenden Hang, erhaschen das Läuten des Campanile, den Geruch nach Schnee, zuweilen eine aufkommende Kindheitserinnerung und einmal sogar einen unverhofften Kaffee. Im Zusammenspiel mit den Zeichnungen von Lorenzo Custer, der mit wenigen Strichen das Wirkungsgefüge Mensch-Natur der Tessiner Landschaft festhält, wird in den kurzen Erzählungen - parallel auf Deutsch und Italienisch zu lesen - das Wesentliche dieser geheimnisvollen, von Berg und Tal, Wald, Stein und Wasser und ihren Bewohnern geprägten Welt erkennbar. Horizonte öffnen sich auf einen Reichtum, der in der Kargheit liegt.

Autorenportrait

Fabio Andina, geboren 1972 in Lugano, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er wieder im Tessin, im Malcantone und im Bleniotal. Sein mehrfach ausgezeichneter Roman Tage mit Felice, erschienen im Frühjahr 2020, war ein großer Publikumserfolg

Leseprobe

Ich erreiche die Stelle, die ich im vergangenen Sommer entdeckt habe. Die Sonne wärmt meinen Nacken. Ich hole die Wasserflasche aus dem Rucksack und trinke. Vor mir, auf der anderen Seite, steigen sanft die nach Osten gelegenen Berghänge an. Der ausgedehnte Kiefernwald vom Talgrund bis zur alpinen Höhenstufe. Fichten, vereinzelte Lärchen. Ich richte den Blick noch weiter hinauf. Im frischen Gras weiße Flecken vom letzten Schneefall im April, wie riesige Tischdecken auf einer Picknickwiese. In den Felsrinnen weiße Zungen aus Altschnee, die sich trichterförmig herabziehen, immer schmaler werden und schließlich verschwinden. Und dann sehe ich sie. Beginne, sie zu zählen. Letztes Jahr habe ich einmal zweiundsechzig an einem Tag gezählt. Jetzt sehe ich neun auf der ersten Decke von links, einundzwanzig, die sich über das Weiß der Rinne bewegen, elf, die auf einem kleineren Fleck liegen. Und mehr und immer mehr. Ich zähle sie noch einmal von links nach rechts. Vierundsiebzig Hirsche. Fast alles Männchen, wie Soldaten, die sich nach einem Marsch von fünfzig Kilometern hingelümmelt haben. Mit ihren Geweihstangen - mächtig die der alten, bescheiden die der jungen. Sie kühlen sich ab in diesen ersten Tagen eines Sommers, der lang und heiß werden wird.