Beschreibung
In schlichter und poetischer Sprache wissen die Märchen von Oscar Wilde uns in den Bann zu ziehen, ihre Themen sind universal und ihre Weisheiten von ewiger Gültigkeit. Die ersten veröffentlichten Prosawerke Wildes erzählen von Güte, Mitgefühl und Treue in einer Welt voll herzlosem Egoismus. Oft zutiefst traurig, bergen sie stets einen hoffnungsvollen Kern. Da ist der junge König, der sich weigert, seine Untertanen auszubeuten - und beweist, dass Dinge nicht so bleiben müssen, wie sie scheinbar immer waren, und dass Ungleichheit kein Gesetz ist. Und dann ist da der glückliche Prinz, dessen gebrochenes Herz als wertvollster Gegenstand in den Himmel gebracht wird - zusammen mit einer toten Schwalbe. Oder der eigensüchtige Riese, der seinen Garten am Ende für alle öffnet, sowie das Gespenst, das Schloss Canterville heimsucht. Es mag wohl niemanden geben, der von Oscar Wildes hinreißenden Erzählungen unberührt bleibt.
Autorenportrait
OSCAR WILDE (1854-1900) wurde in Dublin geboren und lebte in London, wo er als Schriftsteller, Kritiker und Dandy bekannt wurde. Wilde war verheiratet und hatte zwei Söhne, doch seine homoerotischen Affären hielt er nicht geheim. Nach einem Skandal wurde er zu zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt, wonach er Großbritannien verließ und schließlich verarmt in Paris starb. Sein Werk umfasst Theaterstücke, Romane, Gedichte und Erzählungen und zählt zur Weltliteratur. FRANZ BLEI (1871-1942) war ein österreichischer Schriftsteller, Herausgeber und Kritiker sowie Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. 1932 wanderte er aus politischen Gründen nach Mallorca aus, musste aber nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs weiterziehen und landete über Umwege in New York, wo er einige Jahre später verstarb. FELIX PAUL GREVE (1879-1948) war ein deutsch-kanadischer Schriftsteller, der zahlreiche Klassiker aus dem Englischen und Französischen übersetzte. Hoch verschuldet täuschte er 1909 den eigenen Suizid vor, um in Amerika ein neues Leben als Lehrer Frederick Philip Grove zu beginnen. Seine englischsprachigen Romane zählen als Klassiker der kanadischen Literatur.
Leseprobe
DER JUNGE KÖNIG Es war die Nacht vor seinem Krönungstage, und der junge König saß allein in seinem schönen Zimmer. Seine Höflinge hatten alle Urlaub von ihm genommen, indem sie nach dem zeremoniösen Gebrauch der Zeit den Kopf bis zum Boden neigten, und hatten sich in den großen Saal des Palastes begeben, um von dem Oberzeremonienmeister einige letzte Anweisungen zu erhalten; denn einige von ihnen hatten noch ein ganz natürliches Benehmen, und ich brauche nicht erst zu sagen, daß das bei Hofe großen Anstoß erregt. Der Knabe denn er war noch ein Knabe, mit seinen sechzehn Jahren war nicht betrübt, daß sie gingen, und hatte sich mit einem tiefen Seufzer der Befreiung auf die weichen Kissen seines gestickten Lagers zurückgeworfen; er lag da mit flammenden Augen und offenem Munde, wie ein brauner Faun des Waldes oder ein junges Tier der Wildnis, das die Jäger gefangen haben. Und wirklich hatten ihn auch die Jäger gefunden. Sie waren fast durch Zufall auf ihn gestoßen, als er barfuß, die Flöte in der Hand, der Herde des armen Ziegenhirten nachzog, der ihn aufgezogen und als dessen Sohn er sich bis dahin immer angesehen hatte. Das Kind der einzigen Tochter des alten Königs aus einer heimlichen Ehe mit einem, der an Rang weit unter ihr stand einem Fremden, sagten einige, der durch den wunderbaren Zauber seines Flötenspiels die junge Prinzessin bezaubert hatte, daß sie ihn lieben mußte; während andere einen Künstler aus Rimini nannten, dem die Prinzessin viel, vielleicht zu viel Ehre erwiesen hatte und der plötzlich aus der Stadt verschwunden war, ohne seine Arbeit in der Kathedrale vollendet zu haben war er, kaum eine Woche alt, von der Seite seiner schlafenden Mutter gerissen und einem gemeinen Bauern und seiner Frau anvertraut worden, die keine eigenen Kinder hatten und in einem entlegenen Teile des Waldes wohnten, mehr als einen Tagesritt von der Stadt entfernt.
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