Beschreibung
Wenn aus einer Frau wie du und ich die Waldviertler Elektra wird. Ihre Geschichte macht Schlagzeilen, die grell und laut sind. Maria bleibt leise. Erst bemerkt sie niemand, dann haben alle ein Bild von ihr. Die dörfliche Gerüchteküche brodelt in Eichschlag, auch durch die Medien zieht sich die wundersame Geschichte: Eine Frau, die ein Jahr verschwunden war, ist wieder aufgetaucht. Leidet aber an Amnesie - behauptet jedenfalls sie selbst. Was in den letzten Monaten passiert ist, wo sie war, weiß sie nicht. Was sollen da bloß die Leute denken? Vor allem, da kurz vor Marias Verschwinden ihre pflegebedürftige Mutter gestorben ist. Der Hausarzt spricht es schließlich laut aus: Hat sie ihre Mutter umgebracht? Doch selbst als weitere Vorwürfe auftauchen, bleibt Maria stumm. Was soll sie ohne Erinnerung denn sagen? Je ausgiebiger sie schweigt, desto maßloser sprechen die anderen. Maria wird zur Projektionsfläche: Hure, Muttermörderin. Aber ist sie auch wirklich Täterin - jetzt, wo sogar das Landeskriminalamt gegen sie ermittelt? Was würde eine wie Maria tun, wenn es nötig ist? Wer ist Maria wirklich? Und, viel wichtiger: Was hat sie getan? Diese Frage beschäftigt die Ermittler*innen ebenso wie die Medien und die Menschen im Dorf. Besonders Marias Schulfreundin Rafaela kann die Anschuldigungen nicht glauben - das passt doch nicht zu der Person, die sie zu kennen glaubt. Aber auch der junge Journalist Lando interessiert sich für Maria und ihre Geschichte: Hat sie doch in den ausbeuterischen Strukturen gearbeitet, über die er recherchiert. Alle versuchen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Oder zumindest Teile davon. Was sie dabei ausheben, hat Potenzial: Indem Maria nicht spricht, sagt sie etwas über andere. Und diese anderen Frauen schlagen zurück - können sie ihre Solidarität zu einer Waffe machen? Dingfestmachung der Identitäten-Jongleur*innen? Egal was ihr Umfeld, die Kolleg*innen, das Dorf, der Boulevard - die anderen eben - über sie sagen: Die unscheinbare Maria, die ruppige Chefinspektorin Mel oder auch Lando, der als Wiener Journalist für eine deutsche Zeitung schreibt, bleiben sich nicht nur treu. Sie erfinden sich darüber hinaus auch immer wieder neu, anders. Verbergen sie so Brüche und Risse, Unrecht oder Kummer? Oder haben sie einfach Lust am Spiel mit verschiedenen Versionen ihrer selbst? Gudrun Lerchbaum schreibt ihre Charaktere nicht fest: Sie bleiben wandelbar, wendig und in Bewegung. Ihr Spiel mit Perspektivenwechseln, Innensichten und Blicken von außen zieht uns in den Bann, ihre Charaktere begleiten uns auch über die letzte Seite hinaus. Denn so eine wie Maria, so eine sind wir doch alle irgendwie. Die Pflege der kranken Mutter, prekäre Arbeitsbedingungen, eine von Gewalt geprägte Beziehung - Marias Geschichte kommt uns schnell bekannt vor. Umso mehr lässt sie uns hoffen: auf die Stärke von Freundinnenschaft und vielleicht auch auf Gerechtigkeit.
Autorenportrait
Gudrun Lerchbaum, geboren in Wien und aufgewachsen zwischen Wien, Düsseldorf und Paris ist nicht nur eine facettenreiche Autorin - sie hat schon Glasfasermatten verladen, als Aktmodell posiert, Weihnachtskarten designt und viele Jahre als Architektin und freischaffende Künstlerin gearbeitet. Ihr literarisches Schaffen kennzeichnet sich durch starke Frauenfiguren, die ihren Weg finden, und durch das Aufgreifen sensibler gesellschaftlicher Fragestellungen inmitten einer packenden Handlung. Ihre Sprache fesselt, rüttelt wach, zeichnet und verwischt Konturen von Protagonist*innen, die uns auch nach dem Lesen noch lange begleiten. So auch im 2022 erschienen Roman Das giftige Glück: Lerchbaum versetzt eine Stadt in Ekstase und fragt, was zu einem selbstbestimmten Leben gehört. In Zwischen euch verschwinden (Haymon 2023) folgt sie der Spur einer Frau, die viele Frauen ist: Nach dem Tod ihrer Mutter wechselt Maria ihre Identitäten auf der Flucht vor sich selbst. Mit Niemand hat es kommen sehen schließt sie an Marias Vorleben an, wechselt die Perspektiven und stellt die Frage nach der Macht einer Geschichte.
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