Beschreibung
Kulturelle Vielfalt zeichnet pluralistische Gesellschaften genauso aus wie unterschiedliche Lebensstile, sexuelle Orientierungen und Weltanschauungen. Auseinandersetzungen werden heute vor allem über Kopftücher, Heiratsalter und Karikaturen geführt, um Inklusion und Exklusion zu rechtfertigen. Dieser Band stellt jüngere Befunde zu Normenkonflikten in pluralistischen Gesellschaften vor und analysiert, wie neue Formen der Integration von Differenzen vorangetrieben werden können.
Autorenportrait
Susanne Schröter ist Professorin für Ethnologie an der Universität Frankfurt.
Leseprobe
Vorwort Susanne Schröter Kulturelle Vielfalt ist ein wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften, und sie fordert sowohl den einzelnen Menschen als auch die Politik und Zivilgesellschaft heraus. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Durch Flucht und Migration verschieben sich demographische Strukturen und erschüttern normative Gewissheiten. Lokale Bevölkerungen werden dazu genötigt, ihre eigenen Werte zu überdenken und die Grenzen des Akzeptierbaren auszuloten, Migranten/innen mit der Zumutung konfrontiert, sich nicht nur räumlich, sondern auch sozial und kulturell neu zu orientieren. Hybridkulturen entstehen, ungewohnte soziale Bezugsrahmen und Identitäten, die fluid und spielerisch, aber auch starr und repressiv sein können. In der Diaspora kann die kulturelle Verunsicherung so groß sein, dass Gemeinschaften sich jeglicher Veränderung entziehen und die Bewahrung von Normen einfordern, die in den jeweiligen Herkunftsregionen längst erodiert sind. Auch lokale Bevölkerungen sind durch rasante Diversifizierungsspiralen häufig überfordert und wünschen sich eine vermeintlich heile Vergangenheit zurück. Rechtspopulistische und nationalistische, aber auch fundamentalistische Bewegungen sind Ausdruck der emotionalen Überlastung. Doch es ist nicht allein die Pluralisierung durch Migration, die bewältigt werden muss. Moderne Gesellschaften verändern sich ebenso durch Wissen, die Globalisierung der Arbeit und den Einfluss verbesserter Kommunikationsstrukturen, dabei insbesondere durch die sozialen Medien, die neue Ideen, Trends und Lifestyle-Angebote in Echtzeit über den Globus verbreiten. Einen dritten Antrieb für Pluralisierungen stellen Freiheitsrechte für Frauen, Kinder und sexuelle Minderheiten dar, die in den letzten Jahren über internationale Organisationen im Top-Down-Verfahren in den Nationalstaaten implementiert wurden. Sie kollidieren gleichermaßen mit vertrauten verwandtschaftlichen Hierarchien als auch mit überlieferten Wertbeständen und sorgen für einen rapiden sozialen Wandel, der mitunter Gegenreaktionen bei denjenigen hervorruft, die die patriarchalische Familie zur unabdingbaren Keimzelle von Staat und Nation stilisieren. Vielfalt ist konfliktiv - das ist gewiss -, und sie muss gestaltet werden. Schon in der Vergangenheit gab es unterschiedliche Ansätze, um Menschen mit diversen ethnischen und weltanschaulichen Hintergründen sozial und politisch zu organisieren. Einige Systeme waren relativ tolerant und gestanden Minoritäten bestimmte Freiheiten zu, erlaubten beispielsweise das ungehinderte Praktizieren der eigenen Religion und erkannten die Sprachen an. Andere waren restriktiv, versuchten Minderheiten zur Übernahme der hegemonialen Normen zu bewegen und vertrieben kulturelle Praxen ins Verborgene. In einigen Gesellschaften konnten Vertreter von Minoritäten in höchste Ämter aufsteigen, in anderen wurde ihnen die Teilhabe an der Macht strikt untersagt. Einige Gesellschaften waren durchlässig, erlaubten freie Wahlen des Berufs und der Heiratspartner, andere schrieben vor, womit der Lebensunterhalt verdient und wer geheiratet werden durfte. In einigen Gesellschaften wurden Gruppen anhand bestimmter Merkmale festgeschrieben, in anderen führte die Pluralität zur Auflösung kollektiver Grenzen. Auch heute noch existieren alle genannten Modelle weiter, wenngleich durch die Menschenrechte im Prinzip ein einheitlicher normativer Rahmen vorgegeben ist. Nicht immer wird diese Grundlage jedoch von politischen Akteuren/innen akzeptiert. So wird beispielsweise immer wieder der Vorwurf erhoben, die Menschenrechte seien eigentlich westliche Normen, die dem Rest der Welt mit fragwürdigen Mitteln aufgenötigt werden. Die "Organisation der Afrikanischen Einheit" beschloss aus diesem Grund 1981 die "Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker", die "Organisation für Islamische Zusammenarbeit" verabschiedete 1990 die "Kairoer Erklärung für Menschenrechte im Islam" und die "Arabische Liga" entwarf 2004 die "Arabische Charta der Menschenrechte". In diesen alternativen Erklärungen erhalten Religion und Kultur ein besonderes Gewicht und legitimieren mit dem Verweis auf kollektive Regelsysteme die Einschränkung individueller Rechte. Unterschiedliche Rechtsnormen führen sowohl auf staatlicher als auch globaler Ebene zu komplizierten Aushandlungsverfahren. Das gilt auch für Europa und für Deutschland. Wenn das Recht auf die eigene Kultur oder auf freie Religionsausübung die Rechte von Einzelnen verletzt, muss im Einzelfall abgewogen werden. In der Praxis ist dies aber alles andere als einfach. Der vorliegende Sammelband befasst sich mit diesen Grenzphänomenen, die aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven beleuchtet werden. Da das Thema politisch stark aufgeladen ist, sind diese Perspektiven naturgemäß von den individuellen Überzeugungen der Autoren/innen geprägt. Die politische Brisanz, die Normenkonflikten inhärent ist, spiegelt sich auch in den Beiträgen dieses Buches wieder. Es geht in den Aufsätzen dieses Sammelbandes nicht um akademische Betrachtungen eines randständigen Spezialthemas, sondern um wissenschaftlich fundierte Erörterungen und Bewertung gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse, die auch in Deutschland viele Menschen umtreiben. Die Autoren/innen dieses Buches setzen sich unter anderem damit auseinander, ob kulturelle Prägungen von Tätern vor Gericht berücksichtigt werden sollten (Renteln), wo Toleranz Grenzen hat (Steinberg), ob Kulturrelativismus zu essentialistischem Totalitarismus führt (Manea) und was Rechtspluralismus von Paralleljustiz unterscheidet (Rohe). Sie gehen der Frage nach, ob die sexuellen Übergriffe der Silvesternacht 2015/16 einen "Clash of Cultures" bedeuten (Schröter) und welche Lösungsoptionen die Psychoanalyse für die Bearbeitung kultureller Missverständnisse in der Flüchtlingsarbeit anbietet (Leuzinger-Bohleber/Tahiri/Hettich). Immer wieder geht es aus gutem Grund um den Islam, der die säkularen Ordnungen weltweit herausfordert (Tibi). Islamisch gegründete Ordnungen können sukzessive durch säkular verbriefte Rechte eingeschränkt werden (Sezgin), doch es lassen sich, gerade in Ländern mit islamischen Mehrheiten, auch Entwicklungen beobachten, in denen religiöse Normen säkulare verdrängen (Steiner) oder in denen volkstümliche Praktiken als Verstöße gegen religiöse Normen sanktioniert werden (Müller/Beránek). Normenkonflikte können auf unterschiedliche Weise gelöst werden, und diese Lösungen sind abhängig von der politischen Verfasstheit der Gesellschaften, in denen sie ein Problem darstellen. In Europa sind die Bedingungen aufgrund der langen Traditionen demokratischer Konfliktbewältigung vergleichsweise gut, doch es ist nicht selbstverständlich, dass es gelingt, ein tragbares Miteinander zu schaffen, das Vielfalt als Chance und weniger als Behinderung versteht. Letztendlich geht es bei all dem um nichts Geringeres als darum, neue Totalitarismen, seien sie religiös oder weltlich begründet, zurückzuweisen und Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auch durch Zeiten normativer Erschütterungen unbeschadet zu bewahren. Kultureller Pluralismus kann eine produktive Ressource sein, die die Zukunft einer Gesellschaft bereichert, doch dafür müssen Bedingungen geschaffen werden. Der Sammelband stellt verschiedene, teils kontroverse Ansätze für Lösungen vor, verschweigt aber nicht die Probleme, die konfrontiert und bewältigt werden müssen, damit Vielfalt gelingt. Sinn und Unsinn kultureller Rechtfertigung vor Gericht Alison Dundes Renteln Einleitung Wenn Menschen kulturell motivierte Handlungen begehen, durch die sie mit dem Gesetz aneinandergeraten, ersuchen sie das Gericht bisweilen um Berücksichtigung der kulturellen Zwänge, die hinter der betreffenden Tat standen. Wenn sie sich zu ihrer Verteidigung auf solche Rechtfertigungsgründe berufen, möchten sie dem Gericht für gewöhnlich zum Beweis der Gültigkeit ihrer Behauptungen ein Sachverständigengutachten vorlegen. Leider halten Richter häufi...
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