Beschreibung
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts setzen sich Menschen für "Décroissance ", "Degrowth" oder "Postwachstum " ein, und seit der Krise 2008 wird diskutiert, ob die kapitalistische Weltwirtschaft in eine "säkulare" Stagnation geraten ist. Die Debatte um die Grenzen des Wachstums ist als Kritik des globalen Kapitalismus wieder aufgeflammt. Dieser Band bietet neue Perspektiven: Er diskutiert, ob der Kapitalismus weltweit an seine Wachstumsgrenzen geraten ist; er stellt Alternativen neben- und gegeneinander; schließlich fragt er, wie der Weg in eine nicht mehr von Wachstum abhängige Gesellschaft demokratisch gestaltbar wäre.
Autorenportrait
Der Arbeitskreis entstand aus einer Initiative von Nachwuchswissenschaftlern im Kontext des Jenaer DFG-Forschungskollegs Postwachstumsgesellschaften.
Leseprobe
Einleitung: Wachstum - Krise und Kritik AK Postwachstum Der Ausgangspunkt für den vorliegenden Band liegt gewissermaßen mehr als vier Jahrzehnte zurück: Zum einen begann in den 1970er Jahren, prominent angestoßen durch den 1972 veröffentlichten Bericht an den Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, eine ökologisch orientierte wachstumskritische Diskussion. Zum andern geriet die Weltwirtschaft in eine veritable Wachstumskrise, die rückblickend oft als "Krise des Fordismus" begriffen wurde. Schon ab Mitte der 1970er Jahre bezogen wachstumskritische Analysen wie die von Hans-Christoph Binswanger, E. F. Schumacher und André Gorz die ökonomische Krise und die politischen Antworten darauf in ihre Argumentation ein. Ein Zurück zum Wachstum erschien ihnen weder ökologisch noch gesellschaftlich wünschenswert (und teilweise auch ökonomisch verfehlt). In den vorherrschenden Krisenanalysen und Krisenbewältigungsstrategien spielten ökologische Grenzen allerdings keine nennenswerte Rolle. Stattdessen setzten sich ab Ende des Jahrzehnts in den frühin-dustrialisierten kapitalistischen Ländern neue ökonomische und politische Strategien durch, die für die abhängig Beschäftigten massive materielle Einbußen und Verluste von Organisationsmacht bedeuteten, während sie zugleich eine extreme Umverteilung nach oben, die Herausbildung einer globalen Finanzmarktelite sowie einen folgenschweren Umbau des Sozialstaats beförderten. Diese "neoliberale" Konstellation ist zunehmend in die Kritik geraten - von den globalisierungskritischen Protesten in Seattle oder Genua bis zu vielfältigen sozialwissenschaftlichen Analysen marktliberaler Politik und ihrer sozialen, ideologischen und ökonomischen Auswirkungen. Dabei ist seit einiger Zeit eine Wendung erkennbar, die den Impuls der 1970er Jahre in veränderter Weise fortführt: Die Kritik sozialer Ungleichheit und alternativloser Märkte verbindet sich mit ökologisch motivierter Wachstumskritik, und die letztere bewegt sich zunehmend im Horizont der Vermutung, dass das ökonomische Wachstum an seine geschichtlichen Grenzen stößt. Möglich wurde diese Wendung erstens, weil sich die politischen Prob-lemwahrnehmungen verschoben haben. Die Ökobewegungen ver-schafften ökologischen Fragen seit den 1970er Jahren steigende gesellschaftliche Anerkennung, was sich nicht zuletzt in einer breiten Institutionalisierung der Thematik zeigt. Nichtsdestotrotz spitzen sich in globalen Entwicklungen wie Klimawandel, Biodiversitätsverlusten oder der Gefährdung der Meere die ökologischen Probleme zu. Entsprechend gab und gibt es immer neue Anlässe für Mobilisierung und Protest, von der Anti-Atom-Bewegung über Stuttgart 21 bis zur geforderten Agrarwende. Die ökologische Wachstumskritik war allerdings früh zugunsten von Lösungs- und Konsenssuche in den Hintergrund getreten. Nach Überlegungen zu qualitativem Wachstum und ökologischer Modernisierung versprach seit Ende der 1980er Jahre die Idee nachhaltiger Entwicklung eine Ökologie, Ökonomie und Soziales versöh-nende Perspektive, sogar im globalen Maßstab. Faktisch dominiert das Bestreben, Konflikte mit ökonomischen Ansprüchen zu vermeiden, gepaart mit der Hoffnung auf technologische Lösungen. Die erneuerte Wachstumskritik macht deutlich, dass man an den Versprechen der Nachhaltigkeit nur festhalten kann, wenn man über solche Rücksichten hinausgeht. Sie trifft zweitens auf eine veränderte ökonomische Situation. Während die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 plastisch gezeigt hat, dass die wachstumsgenerierenden Potenziale neoliberaler (Wirtschafts-)Politik grundsätzlich erschöpft sind, hat sich parallel, zunächst vor allem in Südeuropa, eine neue politische Bewegung gegen den ökologisch wie sozial destruktiven Wachstumsimperativ formiert. Auch sachlich bestehen zwischen der "säkularen Stagnation" der Gegenwart und der Degrowth-Bewegung offenkundige Verbindungen. Letztere hat wesentlich dazu beigetragen, den vermeintlich zwingenden Zusammenhang von Wachstum und Wohlstand in Frage zu stellen. Zugleich betonen heute viele, die kapitalistische Zwänge, Ausbeutungs- und Zerstörungsprozesse kritisieren, die zunehmend scheiternde Expansionslogik des Systems und suchen Alternativen jenseits des Wachstums. Analysen und Diagnosen zur ökonomischen und ökologischen Krise können sich vor diesem Hintergrund heute mehr als je zuvor wechselseitig befruchten. Zugleich erneuert sich aber auch der Konflikt zwischen Kritikformen, die entweder die ökologischen Grenzen des Wachstums oder die fatalen sozialen Effekte seines Ausbleibens betonen. Auf der einen Seite neigt man weiterhin dazu, die Opfer von Stagnations- und Schrumpfungssituationen (wie etwa in Südeuropa) zu übersehen, auf der anderen Seite tut man sich weiterhin schwer, soziale Umverteilung ohne Wachstum zu denken. Der überstrapazierte Begriff der Krise erhält so einen plausiblen Sinn: Er benennt eine Notlage, aus der keine bereits erprobten Wege herausführen. Der vorliegende Band erörtert, wie es unter diesen Voraussetzungen mit der Kritik steht. Ist eine Wachstumskritik möglich, die konsequent soziale mit ökologischen Erwägungen verbindet und nicht von kapitalistischen Zwängen schweigt; sind sozial engagierte Stagnationsanalysen möglich, die nicht einfach auf produktivistische Gegenrezepte hinauslaufen? Wir haben zu diesen Fragen rote und grüne Wachstumskritiken und Analysen der jüngsten Wachstumskrise zusammengebracht, die bereit sind, ihre unterschiedlichen Perspektiven aufeinander zu beziehen. Arrangiert sind sie nach Grundfragen, die wir für elementar und - nicht zuletzt aufgrund der Spaltungen im kritischen Feld - für noch nicht zufriedenstellend beantwortet halten. Uns interessiert erstens, inwiefern die Dynamik destruktiven Wirtschaftswachstums mit unablässig wachsendem Ressourcenverbrauch genuin kapitalistisch bedingt ist oder als Folge allgemeiner industriegesellschaftlicher Weichenstellungen verstanden werden muss. Auch der Staatssozialismus war ja wachstumsorientiert und umweltzerstörend. In ökologischer Hinsicht können daher (wie Stephan Lorenz im ersten Beitrag des Bands hervorhebt) industrielle, nicht kapitalistische Wachstumsdynamiken als primär angesehen werden. Gleichzeitig scheinen aber (wie Thomas Barth und Tilman Reitz dagegen argumentieren) Profitakkumulation und ökologische Indifferenz derart grundlegend für kapitalistisches Wirtschaften zu sein, dass sie ökologisch-sozialer Politik enge Grenzen setzen. In der nach 1989 unverkennbar kapitalistisch gewordenen Weltwirtschaft stellt sich zweitens besonders die Frage, ob ein allgemeiner Stagnationstrend erkennbar oder sogar unvermeidlich ist. Eine Antwort (die Karl-Georg Zinn vertritt) lautet, dass Kapitalismus ohne Wachstum möglich und aus keynesianischer Sicht sogar längerfristig unausweichlich ist; die Alternativen bestehen dann wesentlich darin, ob das stagnierende Gesamtprodukt zunehmend "neo-feudal" nach oben verteilt wird oder ob man durch öffentliche Kontrolle solidarisch mit nicht mehr wachsenden Erträgen haushaltet. Das Stagnationsszenario könnte allerdings (wie Ulrich Brand und Stefan Schmalz darlegen) irrtümlich eine nordwestliche Perspektive verallgemeinern. Trotz der Krise von 2008 hat sich in China, Indien und anderen Ländern des globalen Südens ein Wachstumstrend durchgehalten. Generell fragt sich ökonomisch, ökologisch und sozial vor allem, welche Weltteile auf wessen Kosten weiterhin zunehmend Arbeit einsetzen, Ressourcen verbrauchen und Güter verteilen können. Weitere Differenzierungen der Frage, wo und weshalb Stagnation droht, wären nötig. Besonders die Wachstumsprobleme in der notorisch nur begrenzt rationalisierbaren Sorgearbeit, die sich zunehmend aus dem Bereich unbezahlter weiblicher Hausarbeit in unterbezahlte, vorwiegend von Frauen ausgeübte Care-Berufe verlagert (ein in unserem Band durch Friederike Habermann angesprochenes Feld, s.u.), verdiente weitere Analysen. Die ökonomische und die ökologische Krise lassen sich unter dem Titel "Degrowth...