La vie est brève, das Leben ist kurz, mürbe Chansonweisheit, nächtlich gesungen im Salon der Señora Mami in Buenos Aires. Juan María Brausen, illusionsloser Texter in einer Werbeagentur, möchte heraustreten aus seinem Leben, ein anderer sein. Nach einer schweren Operation seiner Frau macht er die Erfahrung, dass er nicht zu einer einzigen Existenz verurteilt ist. Hinter der dünnen Wand der Nachbarwohnung hört er die Lebensäußerungen der Prostituierten Queca, und in Gedanken wird er zu Juan María Arce, ihrem brutalen Geliebten. Zugleich phantasiert er sich in die Gestalt des Arztes Díaz Grey, Hauptfigur eines Drehbuchs, an dem er schreibt. Als Queca von ihrem Zuhälter ermordet wird, identifiziert Brausen sich mit dem Mörder und flieht, als Juan María Arce, nach Santa María, in die von ihm selbst entworfene Stadt, wo sich sein Weg mit dem von Díaz Grey kreuzt.
Der Roman, der 1950 erschien, als Onetti in Buenos Aires Redakteur einer Nachrichtenagentur war, bildet den Grundstein seines Ruhms. Er hat bis heute nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt; in ihm tritt der Leser zum ersten Mal in die Welt von Santa María ein.
Juan Carlos Onetti (*1909 in Montevideo, Uruguay,†1994 in Madrid, Spanien) ist vielfach und zu Recht als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Schriftsteller bezeichnet worden. 1932 erschien im Rahmen eines Literaturwettbewerbs eine Erzählung von ihm in der argentinischen TageszeitungLa Prensa. Sein erster Roman,El Pozo (dt.Der Schacht, 1989), folgte 1939 in einer Auflage von 500 Exemplaren. Er veröffentlichte insgesamt elf Romane und zahlreiche Erzählungen sowie zwei Sammlungen von Artikeln, von denen die Mehrzahl ins Deutscheübersetzt wurde.
Bis 1975 lebte er abwechselnd in Buenos Aires und Montevideo, arbeitete unter anderem für die Nachrichtenagentur Reuters, war lange Jahre als Direktor der städtischen Bibliotheken in Montevideo tätig und publizierte regelmäßig in verschiedenen uruguayischen Zeitschriften. Erst mit dem Roman La vida breve(1950, dt.Das kurze Leben,1978) erlangte er einen gewissen Bekanntheitsgrad, blieb aber noch viele Jahre lang eine Art»Geheimtipp« und erst in relativ hohem Alter wurden ihm Ruhm und Achtung zuteil. InLa vida breve erschuf er den fiktiven Kosmos um die Stadt Santa María, der in vielen weiteren Romanen und Erzählungen auftauchen sollte.
Während der Diktatur, die seit 1973 in Uruguay herrschte, wurde Onetti einige Monate lang in Haft gehalten. 1975 ging er mit seiner vierten Frau, der Geigerin Dorothea Muhr, ins Exil nach Madrid, wo er bis zu seinem Tod blieb und die RomaneDejemos hablar al viento (dt.Lassen wir den Wind sprechen, 1986), Cuando entonces(dt.Magda, 1989) undCuando ya no importe(dt. Wenn es nicht mehr wichtig ist, 1996) veröffentlichte.
Der uruguayische Nationalpreis für Literatur wurde ihm gleich zweimal verliehen: 1962 und nach der Rückkehr der Demokratie noch einmal 1985. Außerdem erhielt er 1980 den wichtigsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt: den Cervantes-Preis.
1994 erschien die erste Ausgabe derCuentos completos(dt.Willkommen, Bob. Gesammelte Erzählungen, 1999) in Buenos Aires. Am 30. Mai desselben Jahres starb Juan Carlos Onetti 84-jährig in Madrid.
Fast alle großen Autoren Lateinamerikas erkennen Onettis Einfluss auf ihr eigenes Werk an, und von vielen wird er für den größten lateinamerikanischen Schriftsteller gehalten.
Im Frühjahr 2005 erschien bei Suhrkamp der erste Band der Onetti-Werkausgabe mitLeichensammler undDie Werft in einer revidiertenÜbersetzung. In den nächsten Jahren folgten die vier weiteren Bände der Werkausgabe, zuletzt erschienen 2015 mit Band 5 sämtliche Erzählungen Onettis.
Curt Meyer-Clason, geboren 1910 in Ludwigsburg und verstorben 2012 in München, warÜbersetzer für Texte aus dem Spanischen, Portugiesischen und dem Portugiesisch-Brasilianischen, sowie Herausgeber und Essayist.
Jürgen Dormagen, Lektor, Herausgeber der Werkausgabe Onetti undÜbersetzer (Angeles Saura, Juan Carlos Onetti, Jean Stafford), lebt in Berlin.