Leseprobe
Justizvollzugsanstalt Landgerichtsbezirk Nr.45 Dr. Alphonse Bérenger (Gefängnisdirektor) An den Oberstaatsanwalt J.B. Marin 23. November d.J. Betreff: Streng vertraulich Sehr geehrter Herr Marin, gestatten Sie, dass ich mich wegen eines seltsamen Falles an Sie wende. Er betrifft einen unserer Häftlinge. Der Mann ist bei uns ausschließlich unter seiner Häftlingsnummer RK-357/9 bekannt, da er sich seit dem ersten Tag hartnäckig weigert, seine Personalien anzugeben. Seine Festnahme erfolgte am 22. Oktober. Die Polizei hat ihn nachts auf einer Landstraße in der Gegend von NNNN aufgegriffen, weil er allein und unbekleidet umherirrte. Der Abgleich seiner Fingerabdrücke mit unserer Datenbank ergab, dass er weder in frühere Verbrechen noch in bislang ungelöste Fälle verwickelt ist. Da er sich jedoch auch vor dem Untersuchungsrichter kategorisch weigerte, irgendwelche Angaben zu seiner Person zu machen, wurde er zu einer Haftstrafe von vier Monaten und achtzehn Tagen verurteilt. Während seines gesamten bisherigen Aufenthalts in der JVA hat sich der Häftling Nummer RK-357/9 strikt an die Gefängnisordnung gehalten und stets ein sehr diszipliniertes Verhalten an den Tag gelegt. Davon abgesehen ist er ein kontaktscheuer Sonderling. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass sein eigentümliches Verhalten lange unbemerkt blieb und erst kürzlich einem unserer Wärter auffiel: Der Häftling reinigt jeden Gegenstand, mit dem er in Berührung gekommen ist, und poliert ihn mit einem weichen Lappen; sämtliche Kopf- und Körperhaare, die er im Laufe eines Tages verliert, werden gewissenhaft von ihm eingesammelt und entsorgt, Besteck und Kloschüssel nach Gebrauch auf Hochglanz gebracht. Der Mann leidet also an einem Sauberkeitswahn. Oder aber - und das scheint mir persönlich die plausiblere Erklärung - er möchte unter keinen Umständen organisches Material hinterlassen. Ich hege deshalb den ernsten Verdacht, dass der Häftling RK-357/9 ein Gewaltverbrechen begangen hat und verhindern möchte, anhand von DNA-Proben identifiziert zu werden. Bis heute hat der Mann die Zelle mit einem anderen Häftling geteilt, wodurch er seine biologischen Spuren relativ leicht verwischen konnte. Inzwischen habe ich ihn jedoch aus der Gemeinschaftszelle entfernen und in Einzelhaft unterbringen lassen. Aus gegebenem Anlass möchte ich Sie bitten, entsprechende Ermittlungen einzuleiten und zu beantragen, dass der Häftling Nummer RK-357/9 durch richterlichen Bescheid zur Abgabe einer biologischen Probe (Mundhöhlenabstrich, Blutentnahme) aufgefordert bzw. gezwungen wird. Ein Eilverfahren scheint mir in diesem Zusammenhang dringend angeraten, denn der Häftling wird heute in 109 Tagen (am 12. März) entlassen. Mit freundlichen Grüßen, Dr. Alphonse Bérenger (Gefängnisdirektor)
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