Beschreibung
Alle Reden vom Lernen und von der Bildung. Aber jene Beziehung, aus der unser Wissen und unsere Kultur jahrhundertelang hervorging, ist dabei fast in Vergessenheit geraten: das Verhältnis zwischen dem Meister und seinem Schüler. George Steiner zeigt anhand der Beziehungen zwischen Sokrates und Platon, Jesus und seiner Jünger, Tycho Brahe und Johannes Kepler und anderen, dass sie der Ausgangspunkt aller bedeutenden Errungenschaften der Kunst, der Literatur, der Religion und der Philosophie sind.
Autorenportrait
George Steiner, geboren 1929 in Paris, lehrte Vergleichende Literaturgeschichte in Genf und Cambridge. Seit 1994 hat er den Lord-Weidenfeld-Lehrstuhl für Komparatistik an der Universität Oxford inne. Im Carl Hanser Verlag erschien zuletzt: Die Logokraten. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer (2009).
Leseprobe
EINLEITUNG Nachdem ich ein halbes Jahrhundert lang in zahlreichen Ländern und in unterschiedlichen Hochschulsystemen gelehrt habe, bin ich im Hinblick auf die Legitimität, auf die tieferen Wahrheiten dieser 'Profession' immer unsicherer geworden. Ich setze dieses Wort in Anführungszeichen, um seine komplexe Verwurzelung in religiösen und ideologischen Vorformen anzudeuten. Die Profession des 'Professors' - dies selbst ein etwas undurchsichtiger Begriff - umfaßt alle nur denkbaren Nuancen, von dem Fall, daß man routinemäßig und illusionslos einem Beruf nachgeht, bis hin zu einem begeisterten Gefühl der Berufung. Sie beinhaltet zahlreiche Typologien, die vom seelenzerstörenden Pädagogen bis zum charismatischen Meister reichen. Versunken wie wir sind in nahezu unzählige Formen der Lehre - von elementaren, technischen, naturwissenschaftlichen, humanistischen, moralischen und philosophischen Gegenständen -, treten wir selten einen Schritt zurück, um über die Wunder der Übermittlung, die Quellen der Falschheit und über das nachzudenken, was ich, solange es dafür keine präzisere und handfestere Definition gibt, als das Geheimnis der Sache bezeichnen würde. Was befähigt einen Mann oder eine Frau dazu, einen anderen Menschen zu belehren, wo entspringt Autorität? Und was sind andererseits einige der Hauptkategorien der Reaktion derer, die unterrichtet werden? Diese Frage ließ Augustinus keine Ruhe, und sie ist im libertären Klima unserer Tage zu einem wunden Punkt geworden. Vereinfacht gesagt kann man drei hauptsächliche Szenarien oder Beziehungsstrukturen ausmachen. Meister haben ihre Jünger sowohl psychisch als auch, seltener, physisch zerstört. Sie haben ihren Geist gebrochen, ihre Hoffnungen vernichtet, ihre Abhängigkeit und Individualität ausgebeutet. Die Sphäre der Seele hat ihre Vampire. Umgekehrt haben Jünger, Schüler, Lehrlinge ihre Meister gestürzt, verraten und zugrunde gerichtet. Auch dieses Drama hat sowohl psychische als auch physische Aspekte. Als neugewählter Rektor verhöhnt der triumphierende Wagner den sterbenden Faust, seinen einstigen magister. Die dritte Kategorie ist der Austausch, ein Eros von wechselseitigem Vertrauen und sogar Liebe ('der liebende Jünger' beim Abendmahl). Auf dem Wege einer Interaktion, einer Osmose lernt der Meister von seinem Jünger, während er ihn unterrichtet. Die Intensität des Dialogs bringt Freundschaft im höchsten Sinne hervor. Sie kann sowohl den Scharfblick als auch die Unvernunft der Liebe einbeziehen. Man denke an Alkibiades und Sokrates, Heloise und Abaelard, Arendt und Heidegger. Es gibt Jünger, die sich nicht in der Lage fühlten, ihren Meister zu überleben. Alle Beziehungsformen und die unzähligen Möglichkeiten der Mischung und Abstufung, die zwischen ihnen liegen, haben religiöse, philosophische, literarische, soziologische und naturwissenschaftliche Zeugnisse inspiriert. Das Material entzieht sich jedem umfassenden Überblick, da es wahrhaft planetarisch ist. Die folgenden Kapitel suchen eine ganz summarische Einführung zu bieten; sie sind in fast absurder Weise selektiv. Es geht dabei sowohl um Fragen, die in den historischen Verhältnissen wurzeln, als auch um solche, die unveränderlich sind. Immer wieder überschneiden sich die Zeitachsen. Was bedeutet es, zu überliefern (tradere), und von wem auf wen vollzieht sich ein solches Überliefern in legitimer Weise? Die Beziehungen zwischen traditio, 'dem, was überliefert worden ist', und dem, was die Griechen paradidomena nannten, 'das, was jetzt überliefert wird', sind niemals transparent. Es ist vielleicht kein Zufall, daß im Englischen wie in den romanischen Sprachen die Semantik von treason und traduction nicht völlig von der von tradition entfernt ist. Und diese Vibrationen des Sinns und der Intention wiederum sind stark am Werk in dem selbst beständig herausfordernden Begriff translation, Übersetzung. Ist Lehren in einem grundlegenden Sinne eine Form der Übersetzung, eine Übung zwischen den Ze ... Leseprobe
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