Beschreibung
Wir befinden uns im 12. Jahrhundert, zur Zeit der Kreuzzüge. Baudolino, ein gewitzter Bauernsohn aus dem Piemont, wird Adoptivsohn des Kaisers Friedrich I. Barbarossa. Den Kopf voller Flausen, Phantasien und Lügen, lenken seine irrwitzigen Ideen von nun an den Lauf der Weltgeschichte. Von den Liebesbriefen an die Kaiserin, den undurchsichtigen Machenschaften bei der Belagerung Alessandrias und dem rätselhaften Tod Barbarossas gar nicht zu reden.
Autorenportrait
Umberto Eco wurde am 5. Januar 1932 in Alessandria (Piemont) geboren und starb am 19. Februar 2016 in Mailand. Er zählte zu den bedeutendsten Schriftstellern und Wissenschaftlern der Gegenwart. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt u.a. der Roman Nullnummer (2015), Pape Satàn (Chroniken einer flüssigen Gesellschaft oder Die Kunst, die Welt zu verstehen, 2017), Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis (2019), Der ewige Faschismus (2020) und Der Name der Rose (Jubiläumsausgabe, 2022).
Leseprobe
"In jenen Tagen des Wartens, Kyrios Niketas, war ich von gegensätzlichen Gefühlen beherrscht. Ich brannte vor Begierde, sie wiederzusehen, ich fürchtete, sie nie wiederzusehen, ich sah sie umstellt von tausend Gefahren, mit einem Wort, ich machte alle Gefühle durch, die zur Liebe gehören, nur nicht die Eifersucht." "Hast du nicht daran gedacht, daß die Große Mutter sie gerade jetzt zu den Befruchtern schicken könnte?" "Ein solcher Zweifel ist mir nie gekommen. Vielleicht dachte ich, weil ich wußte, wie sehr ich inzwischen der ihre war, sie sei in solchem Grade die meine, daß sie es ablehnen würde, sich von anderen berühren zu lassen. Ich habe lange darüber nachgedacht, hinterher, und bin zu dem Schluß gekommen, daß vollkommene Liebe keinen Platz für Eifersucht läßt. Eifersucht ist Verdacht, Furcht und Verleumdung zwischen Liebenden, und der Apostel Johannes hat gesagt, daß die vollkommene Liebe alle Furcht vertreibt. Ich empfand keine Eifersucht, aber ich versuchte ständig, mir ihr Gesicht vor Augen zu halten, und es gelang mir nicht. Ich erinnerte mich an das, was ich empfunden hatte, wenn ich sie ansah, aber ich konnte sie mir nicht vorstellen. Dabei tat ich während unserer Begegnungen nichts anderes, als sie unverwandt anzusehen . . ." "Ich habe gelesen, daß es heftig Liebenden so ergeht . . .", sagte Niketas mit der Verlegenheit dessen, der eine so überwältigende Leidenschaft nie selber erfahren hat. "Ist es dir bei Beatrix und bei Colandrina nicht so ergangen?" "Nein, nicht in dem Maße, daß es mich so hätte leiden lassen. Ich glaube, bei Beatrix habe ich vor allem die Idee der Liebe kultiviert, ich brauchte kein reales Gesicht, und außerdem hätte ich es als Sakrileg empfunden, mir ihre körperlichen Züge vorzustellen. Was Colandrina betraf, so ist mir klargeworden - nachdem ich Hypatia kennengelernt hatte -, daß es bei ihr keine Leidenschaft war, sondern eher Freude, Zärtlichkeit, innigste Zuneigung, wie ich sie, Gott vergebe mir, für eine Tochter oder eine kleine Schwester hätte empfinden können. Ich glaube, es geht allen Verliebten so, aber in jenen Tagen war ich überzeugt, daß Hypatia die erste Frau war, die ich wirklich liebte - und sicher war sie das auch und ist es noch und wird es immer bleiben. Später begriff ich, daß wahre Liebe ihren Wohnsitz im innersten Herzen aufschlägt und dort Ruhe findet, aufmerksam für ihre nobelsten Geheimnisse, und daß sie nur selten in die Räume der Vorstellung zurückkehrt. Deshalb gelingt es ihr nicht, die körperliche Gestalt der abwesenden Geliebten zu reproduzieren. Nur die Liebe zur Unzucht, die nie bis ins Innerste des Herzens eindringt und sich allein von lüsternen Phantasien ernährt, vermag solche Bilder zu produzieren." Niketas schwieg, doch es fiel ihm sichtlich schwer, seinen Neid zu beherrschen. Ihre Wiederbegegnung war schüchtern und bewegt. Hypatias Augen strahlten vor Glück, aber gleich darauf senkte sie schamhaft den Blick. Sie setzten sich ins Gras. Akazio weidete friedlich in geringer Entfernung. Die Blumen ringsum dufteten mehr als gewöhnlich, und Baudolino fühlte sich, als hätte er gerade ein Schlückchen burq gekostet. Er wagte nicht zu sprechen, aber schließlich rang er sich dazu durch, weil die Intensität ihres Schweigens ihn sonst zu einer unkontrollierten Bewegung hingerissen hätte. Erst jetzt verstand er, warum er hatte erzählen hören, daß die wahren Liebenden bei ihrem ersten Liebesgespräch erbleichen, zittern und immer wieder verstummen. Es geschieht, weil die Liebe, da sie sowohl das Reich der Natur wie das der Seele beherrscht, alle Kräfte beider auf sich zieht, wie immer sie sich auch bewegt. So bringt die Liebe, wenn die wahren Liebenden sich begegnen, alle Funktionen des Körpers ins Stocken und fast zum Stillstand, sowohl die körperlichen wie die geistigen: Die Zunge weigert sich zu sprechen, die Augen zu sehe ... Leseprobe
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