Schwerenöter

Roman

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442738151
Sprache: Deutsch
Umfang: 796 S.
Format (T/L/B): 4 x 18.7 x 11.8 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Hanns-Josef Ortheil entwirft in seinem Roman Schwerenöter ein virtuos geschriebenes Porträt unser Nachkriegsgesellschaft. Der Autor zeichnet darin die Entwicklung jener Generation nach, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, in den fünfziger Jahren aufwuchs, die Studentenbewegung von 1968 mitgetragen hat und sich in den Jahren danach in die verschiedensten Lager zerstreute. Ein ungleiches Zwillingsbrüderpaar tritt auf, das auf phantasievolle Weise zwei deutsche Arten, sich in der Welt zu bewegen, noch einmal wiederholt: ekstatisch der eine, melancholisch der andere

Autorenportrait

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Leseprobe

Adenauer erwartete mich. Schon wenige Tage nach meiner Geburt hörte ich den altertümlich klingenden, mich sofort in den Bann schlagenden Namen. Einer der zahlreichen, auf mein Kommen hin angereisten Verwandten benutzte ihn, als er sich über das Bett beugte, in das man mich gelegt hatte. Deutlich bemerkte ich sein Erstaunen, den Tanz der Augenbrauen über den beinahe entsetzt sich weitenden Pupillen. Anfangs schien er dem Eindruck selbst nicht zu trauen, denn er runzelte die Stirn, ging langsam um das kleine Kinderbett herum und musterte mich von allen Seiten. Seufzend wandte er sich mit einem hilflosen Blick der gegenüberliegenden Wand zu, dann näherte er sich mir wieder und flüsterte mit einem wenig zurückhaltenden, nikotingesättigten Atem, als wolle er es nur mir sagen: "Der hat den Kopf des Alten, das ist Adenauers Dickschädel!" Schon waren aber auch die anderen aufmerksam geworden, sie drängten herbei, standen um mich - den Schweigenden, Wahrnehmenden - herum, blickten mich mit aufgerissenen Augen ebenfalls überflüssig neugierig an und murmelten den merkwürdigen, mich beunruhigenden Namen nach. Einer nach dem andern sprach ihn aus, "ganz wie der Adenauer", "wahrhaftig, ganz der Kopf des Alten", so daß ich mich in meinem kleinen Bett unruhig hin- und herwälzte. Wie alle Säuglinge wollte ich nicht erkannt und benannt sein. Haben Wiegenkinder in den ersten Wochen und Monaten nicht einen unbedingten Anspruch auf Stille und Pflege? Sie müssen sich von ihrem neunmonatigen, eingezwängten Mutterleibsdasein erholen; sie sollen das angenehme, tiefe und wärmende Dunkel gegen die störende Helligkeit des immer wiederkehrenden Morgens eintauschen. Es ist ein alter Irrtum, daß Kinder aus Mangel an Sprechfähigkeit, aus fehlendem Wissen oder aus Dummheit in den ersten Wochen des Lebens schweigen. Sie schweigen aus guten Gründen; gelten nicht diese ersten Wochen dem gründlichen Studium der Welt, dem Studium der prägenden Menschen, die fürs Spätere von größter Bedeutung sind? Dafür benötigen sie alle Kraft, allen Gedankenreichtum, jede Bewegung der Einbildungskraft. So liegen die klügeren von ihnen beinahe unbeweglich in ihren engen Betten. Sie strampeln und schreien kaum, sie widmen sich einzig der Betrachtung der menschlichen Natur, der Familie, der sie umgebenden häßlichen und schönen Dinge. Nur gut, daß den Säuglingen erlaubt wird zu schweigen; kämen sie sprechend zur Welt, so fehlte es dieser an der notwendigen Erneuerung. Die Säuglinge aber schlafen, und im Schlaf erdenken sie sich insgeheim das Neue der Welt, sie vergleichen die lange im Mutterleib gehegten Spielbilder mit den Bildern des leibhaftigen Lebens; sie ahnen bereits, was zu ändern, was zu tun wäre. Einige Völker glauben mit Recht, daß das einzig Neue an einem Kind die Schale des Körpers sei, daß hingegen sein Geist und seine Seele etwas Uraltes, Vererbtes, Respektierenswürdiges darstellten, das in vielen verstorbenen Personen bereits gewohnt, von der Geschichte der Völker vorgebildet und bei der Geburt nur in veränderter Gestalt ins Leben gerufen worden sei. Ich selbst sah es ähnlich, hatte ich doch in den zurückliegenden Monaten meiner allen Blicken entzogenen Entwicklung Erfahrungen genug gesammelt. Doch hatte die verfrühte Nennung des geheimnisvollen Namens Unruhe in meinem Inneren hervorgerufen. Anscheinend hatte sich niemand darüber Gedanken gemacht. Man unterschätzte mich, man hielt mich für ein unbeschriebenes Blatt, dem man bedenkenlos die fremdesten Urlaute aufprägen konnte. Dabei hatte ich alles versucht, mich zu unterrichten. Schon im Mutterleib hatte ich den auf mich anstürmenden Traumbildern Erkenntnisse abgewonnen, um die mich so mancher beneidet hätte. Kaum hatten sich meine Sinne ausgebildet und verfeinert, hatten sie ihren Dienst bereits gründlich getan. Gekrümmten Leibes, noch kaum beweglich, war ich den Taten und Empfindungen meiner Mutter aufmerksam gefolgt. Zu allem entschlossen hatte ich meine ersten selbständigen Handgriffe eingeübt; auf den meist Leseprobe

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