Beschreibung
Lovis macht sich auf den Weg, auf eine Reise rund ums westliche Mittelmeer: Marseille, Gibraltar, Sizilien. Und, auf den Spuren von Bruno Siegwart, zurück in die dreißiger Jahre. Siegwart, ein unverdrossener Schweizer Ingenieur, hat sich mit Haut und Haar und Rechenschieber dem gigantischen Projekt Atlantropa verschrieben. Der Erfinder dieser Utopie, der deutsche Architekt Herman Sörgel, wollte das Mittelmeer absenken, um Strom zu gewinnen. Siegwart lieferte ihm die Berechnungen, unaufgefordert, aus reiner Begeisterung - und die Idee, die Flüsse Afrikas zu stauen, um noch mehr Elektrizität zu produzieren, für Europa. Als Lovis ihn aufstöbert, ihn mit Fragen bedrängt, versteckt sich Siegwart hinter seinem Glauben an die Technik. Diesen Glauben kennt Lovis vom eigenen Vater, auch er war Ingenieur und Lovis oft mit ihm unterwegs zwischen Betonmischern, Tiefladern, Baukränen und hohen Staumauern. Christoph Keller beschäftigt sich seit Jahren journalistisch und literarisch mit dem Mittelmeer und mit kolonialen Praktiken der Schweiz. Deshalb stach ihm das gut tausendseitige Manuskript von Bruno Siegwart, das er im Deutschen Museum in München aufstöberte, sofort ins Auge. Doch der Roman, den er aus diesem Fund destilliert hat, erzählt weit mehr als die Geschichte einer größenwahnsinnigen Utopie.
Autorenportrait
Christoph Keller, in der Schweiz geboren, in Peru aufgewachsen, ist freischaffender Autor, Reporter und Podcaster. Er schreibt für Zeitungen und Zeitschriften wie "GEO", "Reportagen" oder "Die Wochenzeitung WOZ". Seine Podcasts veröffentlicht er auf der Plattform podcastlab.ch. Bis 2019 leitete er die Redaktion Kunst & Gesellschaft von Radio SRF2 Kultur. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem zweimal mit dem Zürcher Journalistenpreis ausgezeichnet. In der Edition Blau ist 2013 sein Roman Übers Meer erschienen. Christoph Keller lebt in Basel und zeitweilig auf einem kleinen Segelschiff auf dem Mittelmeer.
Leseprobe
Siegwart greift sich die Beilage Fortschritte der Technik, seit drei Monaten trägt er die Schrift mit sich herum, sie ist an den Rändern leicht zerfleddert. Er liest zum wiederholten Mal, was ihn da, vor Wochen, in den Bann geschlagen hat und was ihn in den nächsten Jahren beschäftigen wird, mehr oder weniger Tag und Nacht: Das Projekt eines Münchener Architekten, eines ihm bisher nicht bekannten Herman Sörgel. Er will nichts weniger als das Mittelmeerbecken als 'Kraftquell' nutzen, will einen Damm bei Gibraltar bauen und einen zweiten bei den Dardanellen, will das Mittelmeer von den anderen Meeren abschotten, vom Atlantik, vom Schwarzen Meer, dann mindestens hundert, vermutlich zweihundert Jahre warten, bis das Mittelmeer so weit verdunstet ist, dass die Küsten breiter werden, bis das entsteht, was Sörgel 'Neuland für Europa' nennt. Im Gefälle zwischen Atlantik respektive Schwarzem Meer und dem abgesenkten Mittelmeer sollen Turbinen Strom erzeugen, Millionen Kilowattstunden, dazu kommt die Begrünung der Sahara mit Wasser, das aus dem Mittelmeer gepumpt wird, die Wüste soll zur neuen Kornkammer Europas werden, insgesamt sollen Europa und Afrika, so die Pläne dieses Münchener Ingenieurs, zusammenschmelzen, zu einem neuen Kontinent werden: Atlantropa.