Beschreibung
Wie Inseln ragen Teile der ein ganzes Jahrhundert umspannenden Lebensgeschichten dieser Frauen aus dem Meer des Unbewussten und konturieren so die Spuren, die das Schweigen hinterlässt. Die Lebensstränge von vier Frauen aus drei Generationen einer deutschen Familie werden miteinander verwoben. Clara, Helene, Gitte und Philippa haben alle eine besondere Beziehung zum Wasser: Clara ist wasserscheu und ertrinkt auf ihrer Verlobungsreise fast in der Nordsee, ihre Tochter Gitte wird erst lebendig, als sie mit ihrer Familie aus der deutschen Nachkriegsenge über den Atlantik nach Argentinien ausreist. Und für Gittes Tochter Philippa ist Wasser das Element, in dem sie sich frei fühlt, bis verdrängte Familiengeheimnisse auftauchen. Philippa ruft die bisher ungehörten Stimmen der einzelnen Frauen ihrer Familie wach. Dazu gehört auch ihre Großtante Helene, die nach dem Krieg das Kind Gitte aufnimmt, als Clara sich ertränken will. Mit Helene ist Gitte viel enger verbunden als mit ihrer Mutter, und auch ihr Vater Richard scheint mit Helene eine unerlaubte Nähe zu haben.
Autorenportrait
Patricia Paweletz wurde in Hamburg geboren. Sie hat Germanistik und Theaterwissenschaften studiert und Schauspiel am Max-Reinhardt- Seminar in Wien. Mit ihrem literarischen Debüt "Die Kirgisin" wurde sie vom Lit Hamburg zur Bestenlesung ins Literaturhaus eingeladen und zur Unesco in Paris. Inspiriert von ihrer Arbeit als systemische Familientherapeutin hat sie Dokumentationen über Zwillinge und transgenerationale Themen geschrieben. Erzählungen von ihr wurden in Anthologien u.a. bei Rowohlt, Insel, Jüdischer Verlag/Suhrkamp veröffentlicht. Meerjungfrauengesang ist ihr zweiter Roman.
Leseprobe
Da kommt ein Mann die sandige Allee entlang. Gitte blickt auf, sieht ihn schon von weitem. Sie weiß sofort, wer es ist. Der Mann geht aufrecht und kommt immer näher. Sie erhebt sich, geht ihm entgegen, langsam, Schritt für Schritt. Er kommt auf sie zu, in kaputter Kleidung, das Gesicht schmutzig. Gitte erkennt die braunen Augen, die strahlen. Sie läuft los, schneller und schneller, ihm entgegen. Er bleibt stehen, breitet die Arme aus, fängt sie auf, dreht sich im Kreis mit ihr. Beide lachen. Sie kennen sich ja kaum noch, und doch. Er trägt sie zum Haus, stolpert, stößt gegen das Glas. "Das ist mein Zoo", sagt Gitte. "Famos", antwortet er und streichelt ihren Kopf. Der Schmetterling flattert taumelnd ins weite Blau. Die Tür geht auf. Mutti steht oben und sieht sie an. Reglos starrt sie herüber, ohne ein Wort. "Mutti, er ist da, endlich. Ich habs doch gewusst, dass er kommt! Vati ist da, hurra!" Er lacht und wirft sie hoch, so hoch wie Schmetterlinge fliegen, sie juchzen beide. Mutti dreht sich um und geht hinein.