Verklärung mit Vorbehalt

Aufsätze und Vorträge zur literarischen Antikerezeption IV, Jenaer Studien 8

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783942115339
Sprache: Deutsch
Umfang: 384 S.
Format (T/L/B): 2.9 x 21.6 x 15.5 cm
Auflage: 1. Auflage 2015
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Band IV der Kleinen Schriften von Volker Riedel enthält siebzehn Beiträge zur Rezeption griechischer Werke, Gestalten und Gattungen ('Ilias' und 'Odyssee', Pandora, Tragödie), zu Schriftstellern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Lessing, Winckelmann, Goethe und Schiller) sowie zum Augustus-Bild, zum Zeitalter-Topos und zu Autoren des 20. Jahrhunderts (Friedrich Dürrenmatt, Franz Fühmann, Peter Hacks, Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun und Botho Strauß). Der Verfasser untersucht einerseits in differenzierender Weise die Spannungen und Widersprüche innerhalb einer vorrangig durch Affirmation, Harmonisierung und Idealisierung bestimmten Grundhaltung sowie den trotz des Griechenland-Primats unverkennbaren Anteil Roms an der klassischen deutschen Antikerezeption, und er vertieft andererseits die Erkenntnis, daß der kritische Umgang der Gegenwart mit den älteren Rezeptionstraditionen keineswegs deren pauschale Verwerfung oder eine Negation der Antike bedeutet, sondern sogar der ursprünglichen Ausprägung der alten Mythen näherzukommen vermag.

Leseprobe

Als mein verehrter Lehrer Rudolf Schottlaender mich im Frühjahr 1967 fragte, ob ich eine Dissertation über Lessings Verhältnis zur römischen Literatur schreiben wolle, gab er mir nicht nur den Anstoß zu dem zentralen Gegenstand meiner Forschungen, in dem ich mein Interesse an der Antike und mein Interesse an der deutschen Literatur in Einklang bringen konnte, sondern er lenkte mich zugleich auf eine Problematik, die - früher eher ein Stiefkind der einzelnen philologischen Disziplinen - sich heute mehr und mehr zu einem Schwerpunkt internationaler und interdisziplinärer geisteswissenschaftlicher Bemühungen entwickelt hat: der Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte der Antike. Ich erwähne nur den 'Neuen Pauly'1, in dem (im Unterschied zu seinen Vorgängern, der 'RE' und dem 'Kleinen Pauly'2) diese Thematik ein Drittel des gesamten Umfanges einnimmt und in dessen Rahmen seit 2004 schon mehrere Supplementbände erschienen sind - darunter 'Mythenrezeption', 'Geschichte der Altertumswissenschaften', 'Die Rezeption der antiken Literatur' und 'Historische Gestalten der Antike' -; ich nenne die Aktivitäten der International Society for the Classical Tradition in Boston, Massachusetts, und des von ihr seit 1994 herausgegebenen 'International Journal of the Classical Tradition'; ich erinnere an das von Bernd Seidensticker an der Berliner Freien Universität aufgebaute Archiv für Antikerezeption der Gegenwart, auf dessen Grundlage bereits mehrere Publikationen entstanden sind3; ich führe schließlich das 'Companion for the Classical Tradition' aus Oxford4 und Michael von Albrechts ausdrücklich auf das Nachleben hin angelegte 'Geschichte der römischen Literatur' an5. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich mich - als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Künste zu Berlin, als Hochschullehrer an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, als Mitglied der internationalen Winckelmann-Gesellschaft in Stendal und in den Jahren des Ruhestands als eine Art Privatgelehrter - bemüht, die Erkenntnis zu fördern, daß die Kultur sowohl der vergangenen Jahrhunderte wie der Gegenwart ohne ihre antiken Wurzeln nicht voll erfaßt werden kann und daß das antike Erbe für uns nur dann frisch und lebendig ist, wenn wir es als einen Bestandteil der neueren Kultur - ganz besonders auch unserer eigenen - sehen. Ich habe in meinen Arbeiten zunächst vorrangig den Unterschied zwischen einer primär zustimmend-identifizierenden, an der Größe der Kunst, der Höhe des philosophischen Denkens, der Beispielhaftigkeit des Lebens orientierten Antikerezeption und einer kritisch-problematisierenden Rezeption, einer sozial oder psychologisch motivierten Hinterfragung der tradierten Phänomene angesichts eigener historischer und existentieller Erfahrungen betont. Die erste Spielart ist für die Zeit von der Renaissance bis zur Aufklärung und Weimarer Klassik, die zweite für das 20. Jahrhundert mit seinen extremen Erfahrungen der Weltkriege, der faschistischen Diktaturen und der Deformierung des Sozialismus charakteristisch - pointiert zu fassen im Gegensatz der Achill-Bilder: Für Goethe ist der Homerische Held 'Der Beste der Griechen, der würdige Liebling der Götter' ('Achilleis', Vers 274) - für Christa Wolf, in einer schon fast zum geflügelten Wort gewordenen Wendung aus 'Kassandra', 'Achill das Vieh'. Diesen grundlegenden Unterschied sollten wir nicht aus den Augen verlieren - doch müssen wir auch der Tatsache eingedenk sein, daß selbst in den radikalsten Distanzierungen eine Anerkennung beispielhafter Leistungen mitschwingt und daß auch innerhalb einer stark auf Affirmation und Idealisierung ausgerichteten Betrachtungsweise differenziertere Töne zu hören sind. Gerade aus den Erfahrungen unserer Zeit heraus sind wir für derartige Nuancen im klassischen deutschen Antikebild sensibilisiert worden, und ich habe mich zunehmend auch dieser Problematik zugewendet - wie z. B. den Spannungen und Widersprüchen innerhalb einer vorrangig durch Harmonisierung geprägten Grundhaltung oder dem trotz des Griechenlandprimats unverkennbaren Anteil Roms. Ebenso ist es mein Anliegen, die Erkenntnis zu vertiefen, daß der kritische Umgang der Gegenwart mit älteren Rezeptionstraditionen keineswegs deren pauschale Verwerfung oder gar eine Negation und Destruktion der Antike schlechthin bedeutet, sondern mitunter sogar der ursprünglichen Ausprägung der alten Mythen - ihren brutalen, aber auch ihren humanen Potenzen - näherzukommen vermag. Das griechische und römische Altertum ist in mehrfacher Hinsicht paradigmatisch für geschichtliche und individuelle Entwicklungen und kann auf jeden Fall - sei es in der Wissenschaft, sei es mit besonderer Intensität in der Kunst - die Schulung unseres eigenen Problembewußtseins befördern. Wir stehen zu Beginn eines neuen Jahrtausends vor globalen Anforderungen politischer, ökonomischer, ökologischer, intellektueller und ethischer Natur, die zu bewältigen es mannigfacher Anstrengungen bedarf und deren Lösung alles andere als sicher ist. Durch Rückbesinnung auf die Leistungen und Grenzen früherer Generationen können auch wir als Vertreter der (im weiteren Sinne) historischen Wissenschaften zu diesen Bemühungen beitragen. Hierzu sind nicht gläubige Verehrung, Bildung utopischer Ideale, die Verklärung antiker Phänomene zu verpflichtenden Vorbildern oder gar die Errichtung von Denkmälern und Versuche, wie auch immer geartete heutige Bestrebungen zu legitimieren, vonnöten. Vielmehr kommt es darauf an, durch nüchterne Analyse realer Antagonismen das griechische und römische Altertum in seiner historischen Spezifik zu erfassen und zugleich sich der Aktualität, ja bisweilen sogar der Brisanz seiner Fragestellungen bewußt zu sein. Zu einem adäquaten Humanismusbegriff gehören die Einsicht in die Härte der Wirklichkeit, die historische Differenzierung und der interkulturelle Diskurs.6 Der vorliegende Band knüpft an die 1996, 2002 und 2009 erschienenen Bände I-III meiner Kleinen Schriften zur literarischen Antikerezeption an. Er enthält ausschließlich Arbeiten, die - oft zunächst als Vorträge konzipiert - zwischen 2008 und 2014 entstanden und in Zeitschriften, Sammelbänden oder als eine selbständige Publikation erschienen sind (mitunter an schwer zugänglicher Stelle). Der erste Teil enthält Beiträge zur Rezeption griechischer Mythen und Werke in mehreren Epochen. Teil II befaßt sich mit deutschen Schriftstellern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts - vor allem mit Winckelmann, Lessing, Goethe und Schiller. Im dritten Teil schließlich finden sich Aufsätze zum 20. Jahrhundert: zur Rezeption einer historischen Persönlichkeit und eines literarischen Topos aus der Antike sowie zur Auseinandersetzung mit griechischen und römischen Sujets bei den Autoren Friedrich Dürrenmatt, Franz Fühmann, Peter Hacks, Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun und Botho Strauß. Die Texte sind teilweise überarbeitet - insbesondere erweitert oder gekürzt - worden; einige situationsbedingte Überschneidungen wurden beseitigt. Der von Anlaß und Adressatenkreis her unterschiedliche Charakter der einzelnen Aufsätze sowie Divergenzen in der Diktion und im Anmerkungsapparat sind erhalten geblieben. Hinsichtlich der Zitierweise wurden einheitliche Grundlinien angestrebt. Danken möchte ich allen Verlagen und Redaktionen, die in großzügiger Weise die Genehmigung zum Abdruck bereits publizierter Aufsätze erteilt haben. Den Verlegern, Herrn Dr. Frank Bussert und Herrn Helmut Stadeler, sowie dem Herausgeber der 'Jenaer Studien', Herrn Dr. Günter Schmidt, sei mein herzlicher Dank für die Veröffentlichung des Bandes ausgesprochen. Herrn Helmut Stadeler danke ich für die sorgfältige Ausführung des Layouts. Berlin, im Frühjahr 2015 Volker Riedel