Zeynep suchen

Ein Blog-Roman aus Istanbul

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783910948020
Sprache: Deutsch
Umfang: 368 S.
Format (T/L/B): 3.1 x 21.2 x 14.2 cm
Lesealter: 14-99 J.
Einband: Paperback

Beschreibung

1982 treffen die Autorin und Zeynep beim Schüleraustausch in Bremen aufeinander. Jahrzehnte später macht sich die Dichterin und Schriftstellerin auf nach Istanbul, um ihre Freundin wiederzutreffen, mit einem alten Reiseführer und dem Orientbild von Karl May im Gepäck. Ihre Recherchen führen sie durch geschichtsträchtiges Gelände, sie entdeckt verwunschene Orte und dramatische Schicksale, sie fragt nach verdrängter Vergangenheit und stellt ihr eigenes Türkeibild auf den Prüfstand. Damit gelingt ihr ein eindringliches Bild der politischen und sozialen Verhältnisse der Stadt zwischen Aufstieg und Verfall.

Leseprobe

Gestern hat es kurz geregnet. Ich schaue mir immer wieder die drei Fotos an, auf denen Zeynep zu sehen ist. Die Farben sind in fast vierzig Jahren ein wenig verblasst. Das sieht so aus, als hätte es damals andere Farben gegeben. Wie die Farben wirklich waren in diesem Jahr 1982, weiß ich nicht mehr. Vielleicht waren sie so wie auf den Fotos, bräunlich, mit Patina. Der Himmel ist heute von einem sanften Blau. Ich lerne die türkischen Bezeichnungen für Farben. Rot heißt auf Türkisch kirmizi. Blau heißt mavi. Ich frage mich, warum die türkischen Namen für Farben aus anderen Sprachen (Karmesin, Mauve) kommen. Das sanfte Blau des Himmels passt zu dem Türkis des Hauses gegenüber. 'Blau. Himmelbosporusblau. Schwarzmeerblau aus Atatürks nachkolorierten Augen, Augen perlenblau gegen den bösen Blick. Türkis. Türkisches?. ' In der Nacht habe ich schlecht geschlafen. Ich musste an ein Kind denken. Das Kind saß gestern am Aufgang zur Galatabrücke. Es hatte braungebrannte Haut und lange sonnengebleichte verfilzte Haare. Es hatte blaue Augen. Waren sie türkisblau, bosporusblau oder gar perlenblau? Es hatte keine Schuhe an den Füßen. Es war höchstens sechs Jahre alt und sehr dünn. Es war ein Mädchen und dieses Mädchen saß im Schneidersitz auf dem Boden und öffnete einen schwarzen Müllsack, in dem waren vergammelte Brötchen, Papierfetzen, Flaschen, leere Pappbecher, Gemüsereste, Unrat. Ich blieb stehen und sah zu ihr hin. Dann wurde ich weitergezogen. Die Müllsammler in Istanbul sind auch braungebrannt. Sie sind so schnell wie die trabenden Pferde, die sie ersetzen. Sie laufen mit ihren großen Karren in rasender Geschwindigkeit durch die Straßen und zwischen den bummelnden einkaufenden essenden lachenden und meist gutgekleideten Menschen hindurch. Manchmal stehen sie an einer Straßenecke und stützen sich auf ihren Karren ab. Ich frage mich, ob sie die bummelnden einkaufenden essenden lachenden Menschen beobachten. Dann laufen sie wieder die steilen Straßen hinunter und stemmen sich bei hoher Geschwindigkeit gegen das Gewicht ihrer Karren. Manchmal habe ich auch schon Frauen gesehen, die diese Karren ziehen. Diese Frauen tragen immer schwarze lange Kleidung und Kopftücher. In ihren Karren sitzt auf dem Müll oft ein kleines schmutziges Kind und manchmal haben sie sich ein noch kleineres Kind auf den Rücken gebunden. All diese Müll aufsammelnden Menschen wirken immer gehetzt. Sie sind immer lautlos. Ich frage mich, wohin sie laufen. Ich frage mich auch, ob sie einen Plan haben beim Sammeln des Mülls, der abends an den Straßenecken abgestellt wird. Auch ich stelle den Müll an der Straßenecke ab. Man sagte mir, in Istanbul würde der Müll nicht vorsortiert. Man sagte mir, ich solle den Müll jeden Abend rausbringen, damit sich in der Wohnung kein Ungeziefer sammelt. Ich trenne den Müll trotzdem und lege ihn an einer Stelle ab, an der schon andere Müllbeutel stehen. Es gibt keine Mülltonnen in meinem Stadtviertel, weil Terroristen darin Bomben ablegen könnten. In anderen Stadtvierteln habe ich schon Mülltonnen gesehen. Sind in meinem Stadtviertel viele Terroristen unterwegs? Viele der Müll sammelnden Menschen kommen aus Afghanistan und aus Syrien, habe ich gehört. Vier Millionen syrische Menschen sind in den letzten Jahren in die Türkei geflüchtet. In der Nacht, die nicht abkühlt, muss ich immer wieder an das kleine Mädchen auf der Brücke denken. Ich frage mich, wo sie nun schläft. Ich frage mich, ob sie jetzt bei ihrer Mutter ist und ob ihre Mutter sie liebt. Ich frage mich, ob ihre Mutter ihr wohl beigebracht hat, den Müll zu durchwühlen. Und auch, ob ihre Mutter so blaue Augen hat wie sie. Türkisblau, bosporusblau, perlenblau. Wieder denke ich an Barbara Köhler. Mavi. Und ich denke an Zeynep. Sie hatte dunkle Augen. An ihre dunklen Augen erinnere ich mich, weil es in Bremen im Jahr 1982, als sie mich besuchte, nur wenige Menschen mit dunkelbraunen Augen gab. Fast alle um mich herum hatten blaue Augen. Ich mochte es, in Zeyneps Augen zu gucken. Jetzt gucke ich wieder aus dem Fenster. Ein paar Wolken sind vor den sanftblauen Himmel gezogen. Vielleicht regnet es wieder. Ich schlafe nicht gut in Istanbul.