Beschreibung
1938: Die neunjährige Elfi Zimmermann erlebt das letzte Jahr vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs in einem südmährischen Städtchen. Zu Beginn des Jahres freut sie sich über ihr neues Fahrrad, im Herbst besetzen Hitlers Truppen die Sudetengebiete, und alles beginnt sich zu verändern. Elfi kann nicht verstehen, warum ihre jüdische Freundin, viele Nachbarn und immer mehr Geschäfte verschwinden und warum ihre Eltern nicht mit ihr sprechen, sondern nur miteinander flüstern. Ilse Tielsch zeigt ein in dieser schwierigen Zeit in ihren Gedanken und Ängsten alleingelassenes Mädchen, das nicht akzeptieren will, dass sein unbeschwertes Leben nicht mehr möglich ist.
Autorenportrait
Ilse Tielsch wurde 1929 in Auspitz/Hustopece in Mähren geboren und lebt als Schriftstellerin in Wien. Studium der Zeitungswissenschaft und Germanistik, 1953 Promotion. Mitglied des Österreichischen P.E.N.-Clubs und des OeSV sowie Gründungsmitglied des Literaturkreises Podium. Veröffentlichung von Romanen und Gedichten, u.a. »Die Ahnenpyramide« und »Heimatsuchen«. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Viele Preise und Auszeichnungen, u.a. Anton-Wildgans-Preis, Andreas-Gryphius-Preis und Südmährischer Kulturpreis. www.ilsetielsch.at
Leseprobe
Und dann muß ich mir einfach Luft machen, ich muß meine Angst loswerden, also schreie ich es heraus, wovor ich mich fürchte, wovor ich solche Angst habe, die ganze Geschichte schreie ich heraus, was ich in der Nacht gehört habe und was die Marschenka gesagt hat und daß die roten Flecken vielleicht gar keine Schafblattern sind, sondern ein Zeichen, daß ich ein jüdischer Mischling bin. Nie vorher habe ich meine Mutter so erschrocken gesehen wie jetzt. Mein Gott, sagt sie nur, mit einer ganz fremden, heiseren Stimme, und noch einmal: Mein Gott! Dann setzt sie sich zu mir aufs Bett, nimmt mich in die Arme, drückt mich an sich und streichelt mich, was sie sonst nur sehr selten tut. Und dann sagt sie, daß ich überhaupt keine Angst zu haben brauche, weil das, was mir die Marschenka gesagt hat, ein absoluter Blödsinn ist, und daß es überhaupt kein Unglück ist, eine jüdische Großmutter zu haben, daß es nur wenige Leute gibt, die so etwas für ein Unglück halten, und daß auch diese wenigen Leute nur so denken, weil man es ihnen eingeredet hat und weil so zu denken einfach nur eine blödsinnige und saudumme Mode ist. Die Großmutter von der Tante Liesl, sagt meine Mutter, war eine ganz besonders liebe Frau. Und warum, schluchze ich, will der Onkel Kurt die Tante Liesl dann nicht mehr heiraten? Weil er, sagt meine Mutter, allem Anschein nach zu diesen sehr dummen Leuten gehört, die sich die Mode, so zu denken, von anderen blöden Leuten haben einreden lassen. Du hast wirklich nur die Schafblattern, sagt sie, das kannst du mir glauben. Und jetzt, sagt sie, während sie aufsteht und noch ein bißchen an meiner Tuchent herumklopft, werde ich mit der Marschenka ein ernstes Wort reden. Nein, sagt sie, wie sie mein schon wieder erschrockenes und ängstliches Gesicht sieht, und weil sie ja weiß, daß die Marschenka so etwas wie eine Freundin für mich ist, nein, du mußt dich nicht fürchten, ich werde ihr schon nicht den Kopf abreißen! Dann geht sie aus dem Zimmer. Ich weiß also jetzt, daß ich wirklich nur die Schafblattern habe. Daß es nur eine blödsinnige Mode ist, eine jüdische Großmutter für ein Unglück zu halten, glaube ich der Mutter auch, und ich hoffe sehr, daß der Onkel Kurt zur Vernunft kommen und die Tante Liesl trotz ihrer Großmutter heiraten wird. Ich muß also rasch gesund werden, damit ich bald wieder ins Schwimmbad gehen und radfahren kann. Bis dahin muß ich viel Tee trinken und viel schlafen, und die Alenka darf mich nicht besuchen, weil sie sich anstecken könnte. Auch lesen soll ich nicht. So liege ich allein in meinem Bett und denke über den Onkel Kurt, die Tante Liesl, ihre Großmutter, den Eisenbahnbau in Amerika und die im Sterben liegende rote Rasse nach, vor allem über die Apachen und ihren Häuptling Intschu Tschuna und über seinen Sohn Winnetou, bis ich zum Nachdenken zu müde geworden bin und einschlafe. [.]