Diese ganze verfluchte Sehnsucht

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783867121736
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S.
Einband: Paperback

Beschreibung

Können Sie auch keine Nachrichten mehr hören? Karl Prangenstädt ergeht es so. Er entsorgt Fernseher und Notebook, zieht in ein Eifeldorf und verbringt grummelnd die Tage in seinem Bademantel mit immer mehr Schnaps. Plötzlich steht ein merkwürdiger junger Mann vor der Tür. Wenig später kommt Luise, die Liebe seines Lebens. Gemeinsam haben sie während der ­Studentenbewegung demonstriert, voller Sehnsucht nach einer besseren Welt. Das Wiedersehen ist turbulent und ernüchternd. Zu unterschiedlich sind ihre Erfahrungen: Karl hat als Kriegsreporter alle Illusionen verloren. Luise liebt die Meditation und organisiert Kurse zur Selbsterfahrung auf idyllischen ­Mittelmeerinseln. Vor allem aber glaubt sie an die Kraft der Gedanken zur Schaffung positiver Energien. Und die will sie einsetzen Ein Roman über Liebe, Protest und vergessene Träume - heiter, ­melancholisch und hintergründig.

Autorenportrait

Ulrike Schwieren-Höger hat lange Zeit als Redakteurin für die Wochenendausgabe des General-Anzeigers in Bonn gearbeitet und war anschließend im Ressort "Geistige Welt" bei der Tageszeitung "Die Welt" tätig. Für den Verlag "Grenz-Echo" hat sie mehrere Reiseführer geschrieben und Bildbände veröffentlicht. Nach "Frau Kassel will Wunder" ist "Diese ganze verfluchte Sehnsucht" ihr zweiter Roman. Sie lebt mit ihrer Familie seit 40 Jahren in der Eifel.

Leseprobe

Dem Scheppern war eine unheimliche Stille gefolgt. Er hatte es geschafft. Das Radio lag auf der Straße. Und auch der Fernseher. Bei seinem MacBook hatte er gezögert, das Design, der satte Glanz: Eigentlich liebte er das. Doch auch dieses Teil war aus dem Fenster geflogen. Karl Prangenstädt schaute hinaus auf den Haufen Metall, Glas, Kabel. Lächerlicher Elektroschrott. Du wirst mein Leben nicht mehr vergällen!, schrie er, griff mit beiden Händen nach ein paar Zeitungen, warf das Papier in weitem Bogen nach draußen, sah grinsend das Flattern der Blätter, knallte das Fenster so heftig zu, dass es schepperte, ging zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier heraus, kickte den Metallhut ab, setzte sich an den Küchentisch und schob ein paar Tassen und Teller beiseite. Ruhe. Nichts bewegte sich. Erschöpft schloss er die Augen. Er wollte sie nicht mehr hören, diese Hiobsbotschaften auf allen Kanälen, ob Fernsehen, Radio oder Internet. Krieg in Europa, Flüchtlingsströme, Propaganda, Hassbotschaften, Börsencrash, Vireninvasion, Coronapandemie, Gender-Sprech, Populistengeschrei. Schluss damit. Es war Zeit, sein Leben zurückzuerobern. Er packte einen Wurstzipfel, der auf dem Tisch lag, zerrte die Pelle ab und kaute lange, ohne Genuss. Ein bisschen Fett stärkt die Nerven. Hoffentlich. Wenn er vom Tisch nach draußen schaute, war nichts Beunruhigendes zu sehen: der Himmel, sehr blau, über den satten Feldern der Börde. Obstbauminseln tupften ein paar dunkle Punkte in den wehenden Weizen, Bauernhöfe glänzten im Sonnenlicht. Seit Römerzeiten war das hier die ganze Welt: Himmel, Feld, Hügel, Wiesen. Und gleich hinter dem Dorf der Wald. Unwegsam, dicht, einsam, durchsetzt von Windbrüchen. Seitdem der Nationalpark die Gesetze schrieb, war das Nadelgehölz dem Untergang geweiht. Kahle Kiefern belagerten die Bergwälder wie abgenagte Gerippe und signalisierten Verwesung. Armeen von Käfern und Insekten wühlten im vermodernden Holz, Pilze durchdrangen die Fäulnis. Das Bild war gewünscht: Auf 11.000 Hektar sollte die Rotbuche triumphieren. Auf den Lichtungen wucherten Hainsimse und Waldmeister, in den Auen gediehen wilde Narzissen. Gelb leuchtete das Eifelgold, von dem jeder heimische Dichter mit sonnigen Zeilen schwärmte. Nachts schlich die scheue Wildkatze durchs Gebüsch und fauchte für die düsteren Bilder der versteckten Kameras, und der Schwarzstorch verkroch sich in den mächtigen Buchenkronen, als suche er Schutz vor all den bösen Worten, die ihn seit Jahrhunderten als Künder von Not und Unheil diffamierten. Seit 10.000 Jahren wand sich die Rur mit den kalten Wässern des Hohen Venn durchs Land, und an ihren Ufern lebte der sagenumwobene Eisvogel, ein blitzschneller Fischjäger, der in allen Farben des Regenbogens schillerte, und dem Eifeler Wunderheiler Hubert Wachtendonk als Sinnbild menschlicher Talente erschien: Arm ist, wer seinen Eisvogel verfehlt! Seine Berufung versickert im Nichts. Er ist so gut wie nicht gewesen. Von all dem wusste Prangenstädt wenig. Die Natur war ihm gleichgültig. Aber ausgerechnet hier hatte er in einem Anfall von Wut seine Geräte zerstört. Er fröstelte und starrte ratlos aus dem Fenster. Statt Nachrichten zu hören, hätte er gleich nach draußen schauen sollen. Ihn erstaunte die Reglosigkeit, die Menschenleere, die Stille dieses Dorfs hart am Rande des Nationalparks und dicht an der grauen Spur der B 265. In der Ferne pflügte ein roter Trecker durch die Felder, ein paar Spaziergänger tupften schwarze Striche ins Land, der Nachbarhund kläffte und das Gartentor quietschte im Wind. Wie aus dem Nichts stand plötzlich der Vogel am Himmel. Die Flügel mächtig und weitgespannt, verharrte er vor dem Himmelsblau, ruhte ohne einen Flügelschlag auf dem Luftstrom wie in einem Federbett. Weiß, schwarz und rostrot schimmerte sein Gefieder in beinahe überirdischer Schönheit. Intensiv leuchtete der lange, gabelförmige Schwanz, der sich behutsam bewegte, und den Rotmilan in all seiner Majestät und Pracht direkt über das Hausdach steuerte. Das Handy klingelte. Prangenstädt schreckte hoch. Wie gehts? Was treibst du?, fragte Freund Heinrich. Ich mache endlich mal gar nichts. Wollten wir das nicht immer? Die Menschen brauchen ein Ziel, einen Sinn. Um den zu finden, brauchen sie andere Menschen. Sag mal, hast du zu viel Politikergeschwätz gehört? Seit wann faselst du von Menschen, früher waren das einfach Leute für uns. Dieses gestelzte Gerede geht mir auf die Nerven. Wenn ich das höre, denke ich sofort, die haben wieder einen Plan für mich, die überlegen, was ich tun und vor allem, was ich nicht tun darf, sagte Prangenstädt. Glaub mir, ich bin Journalist und stelle fest, dass fast alle Kollegen das Politiker-Geschwafel nachplappern. Ich will das nicht mehr wissen. Ich bin alt. Mir reicht es. Dieses Einsiedeln bekommt dir nicht. Ich erzähl dir kurz was: Hab mich gerade endgültig von Ute getrennt. Das war völlig alternativlos. Wir hatten uns einfach nichts mehr zu bieten. Weißt du eigentlich, was du da sagst?, wetterte Prangenstädt. Alternativen gibt es immer. Nur Diktatoren haben da keine Ideen. He, Heinrich, was ist los mit dir? Glaub doch nicht das Geschwätz, und vor allem: Quatsch es nicht nach. Wir haben 1968 zusammen Barrikaden gebaut. Erinnerst du dich? Schluckst du jetzt alles, was sie dir vorkauen? Haben dich die Testosteron-Spritzen um den Verstand gebracht? Kaum gesagt, tat ihm die Bemerkung leid. Das Altern ist ein schweres Geschäft, das spürte er selbst jeden Tag. Heinrich hatte gegen den Lauf der Zeit ein eigenwilliges Konzept entwickelt: Immer häufiger ließ er sich von Frauen begleiten, die unübersehbar waren - und das lag nicht nur an ihren hohen Wangenknochen. Sexy gestylt, High Heels, tief dekolletierte Blusen, lange Haare und grellrote Lippen. Ihre prüfendskeptischen Blicke verrieten, dass sie nichts anfangen konnten mit dem Schlabberlook vieler deutscher Frauen. Sie brachten die Weiblichkeit auf den Punkt, nicht ganz dem westlichen Zeitgeist entsprechend, aber wirkungsvoll. Heinrich gefiel das. Er hatte sich sogar das Nötigste an Russisch zugelegt und entsprach den Erwartungen: Als pensionierter Beamter beim Land NRW hatte er eine passable Pension, eine gepflegte Wohnung und einen netten Umgangston. Die Damen durften ihrem Ruf gerecht werden: Bemuttern, umsorgen, schön sein, Sex bieten. Nur eines klappte nicht, und das lag eindeutig an ihm: Heiraten würde er auf keinen Fall. Jetzt stutzte er, überrascht, auf so viel Wut zu treffen. Eigentlich meinte er, in Prangenstädt einen Freund im Geiste zu haben. Musste er sich Sorgen machen? Prangenstädt stöhnte leise. Was hatte er noch mit diesem Mann zu tun? Das Handy in der Hand spürte er Wehmut, als habe er etwas verloren, das ihm kostbar erschien. Das diffuse Gefühl der Leere, das ihn schon seit Wochen quälte, hatte mit Heinrich einen Namen bekommen. Er sah sich mit ihm in der Filmdose lauthals palavern, die Haare lang, die Zigarette und ein Kölsch griffbereit, manchmal ein Buch unterm Arm, gerne Wilhelm Reich, sperrig die Texte, aber elektrisierend die Theorie, dass jede psychische Erkrankung von einer Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit herrühre. Das Therapieziel: die orgastische Potenz. Lächerlich, dachte Prangenstädt, vielleicht versucht Heinrich das heute noch. Er hielt das Handy weit vom Ohr, um nicht jedes Wort hören zu müssen, reckte sich energisch und versuchte, mit der freien Hand seine Jeans über den nackten Bauch zu ziehen. Vergeblich. Vielleicht sollte er endlich mal abnehmen oder wenigstens Hosenträger kaufen, damit die Blue nicht ständig rutschte. Blöd, der Gedanke. Wie das wohl aussehen würde, Jeans mit Hosenträgern? Geht gar nicht. Oder doch? Vielleicht wird das mal Kult oder ist es schon: Jeans mit Hackett-Hosenträgern. Heinrich war jetzt beim Schlusssatz. Ihm war klar geworden, dass dies nicht die Zeit war, von alten Sehnsüchten und neuen Partnerinnen zu reden. Er wünschte einen guten Tag, stockte dann: Bist du eigentlich in der Nähe von Vogelsang? Wenn j...