Beschreibung
'Lakonische Meisterwerke eines genialen Jünglings' (Jorge Luis Borges)Kultureller Reichtum und wilde Schönheit, Naturgewalt und bunte Exotik Indiens waren das Lebensthema Rudyard Kiplings. Wie kein zweiter verkörpert der britische Nobelpreisträger die Faszination Europas für das ferne Land am Ganges. Kiplings Kurzgeschichten, die hier in Neuübersetzung vorliegen, führen uns Indien in all seinem Zauber vor Augen. Bemerkenswert differenziert und in seiner Anschaulichkeit unübertroffen ist das Bild, das der in Bombay geborene Rudyard Kipling (1865-1936) in jungen Jahren vom indischen Subkontinent und seinen Bewohnern zeichnete. Kiplings stimmungsreiche Erzählungen bezeugen Stolz, Gewitztheit und Aberglauben der Einheimischen, aber auch Neugier, Verzweiflung und Staunen der britischen Kolonialherren: Das indische Mädchen Ameera teilt sein Leben 'ohne kirchlichen Segen' mit einem britischen Beamten, doch das gemeinsame Glück ist nur von kurzer Dauer. Dem erfolgreichen Ingenieur Findlayson wird die Macht des 'heiligen' Flusses beim Bau einer Brücke über den Ganges eindringlich vor Augen geführt. Wie er ist auch der gelehrte Brahmane Purun Bhagat den Fährnissen der gewaltigen Natur ausgeliefert: Im Einklang mit der belebten Welt sucht Bhagat nach Erleuchtung, rettet ein Dorf vor der Überschwemmung und setzt dabei sein Leben aufs Spiel. Ein kleines Silberkästchen namens 'Bisara von Pooree' kann Wunder bewirken - doch wer es auf legalem Weg erwirbt, stirbt binnen drei Jahren. Verdankte Kipling den 'Dschungelbüchern' und dem Roman 'Kim' seinen Welterfolg, so waren es die hochkarätigen Kurzgeschichten, die bereits früh seinen literarischen Ruhm begründeten. In ihrer inhaltlichen Dichte, großen stilistischen Brillanz und heiter-ironischen Tonlage waren Kiplings Kurzgeschichten von bedeutendem Einfluss auf die Short story des 20. Jahrhunderts.Inhalt:Die Geschichte von Muhammad Din / Das Wunder des Purun Bhagat / Ohne kirchlichen Segen / Die Brückenbauer / Der Bisara von Poiree / Das Tor der hundert Sorgen / Dray Wara Yow Dee / Die Geisterrikscha.
Autorenportrait
Rudyard Kipling (1865-1936) wurde in Bombay geboren, doch in England erzogen. Nach Indien zurückgekehrt, unternahm er ausgedehnte Reisen, arbeitete als Journalist und Autor. Die Situation der Engländer in Indien beschrieb er zunächst ironisch gebrochen, verließ dann mit vierundzwanzig Jahren das Land und wurde zum umstrittenen Verfechter des britischen Imperialismus. Kipling erhielt 1907 den Nobelpreis für Literatur.
Leseprobe
Die Geschichte von Muhammad DinWer ist glücklich zu nennen? Ein Mann, in dessen Haus Kinder mit Staub im Haar stolpernd und lärmend herumtollen.Munichandra, übersetzt von Professor PetersonDer Poloball war alt, verschrammt, beschädigt und arg mitgenommen. Er lag auf dem Kaminsims zwischen den Pfeifenstielen, die Imam Din, khitmatgar, für mich säuberte."Braucht der Himmelsgeborene diesen Ball?" fragte Imam Din ehrerbietig.Der Himmelsgeborene legte keinen besonderen Wert darauf; aber was konnte sein Bursche damit anfangen?"Wenn Euer Ehren gestatten, ich habe einen kleinen Sohn. Er hat diesen Ball gesehen und möchte damit spielen. Ich will ihn nicht für mich selbst."Niemand hätte den würdevollen alten Imam Din auch nur einen Augenblick lang verdächtigt, mit Polobällen spielen zu wollen. Er nahm das ramponierte Ding mit auf die Veranda, von wo sogleich stürmische spitze Freudenschreie zu hören waren, dann patschende Kinderfüße und das "Klock-klock" des Balles, der über den Boden kullerte. Offensichtlich hatte das Söhnchen draußen vor der Tür gewartet, um seinen Schatz in Empfang zu nehmen. Aber wie konnte er den Poloball überhaupt entdeckt haben?Als ich tags darauf eine halbe Stunde früher als sonst von der Dienststelle nach Hause kam, bemerkte ich eine kleine Gestalt im Speisezimmer - ein winziges, rundliches Wesen in einem lächerlich dürftigen Hemd, das nur etwa bis zur Hälfte des drallen Bäuchleins reichte. Das Kind streifte durch den Raum, den Daumen im Mund, und summte vor sich hin, während es die Bilder begutachtete. Zweifellos war dies "der kleine Sohn".Natürlich hatte er in meinem Zimmer nichts zu suchen, war aber so sehr in seine Entdeckungen vertieft, daß er mich an der Tür nicht wahrnahm. Ich betrat den Raum und erschreckte ihn fast zu Tode. Mit einem Japsen fiel er auf sein Hinterteil. Er riß Augen und Mund weit auf. Ich wußte, was das zu bedeuten hatte, und floh, verfolgt von durchdringendem Geheul, das die Dienstbotenräume viel schneller erreichte als je ein Befehl von mir. Binnen zehn Sekunden stand Imam Din im Speisezimmer. Dann ertönte verzweifeltes Schluchzen, und als ich wiederkam, machte Imam Din dem kleinen Sünder, der nun fast sein ganzes Hemd als Taschentuch benutzte, schon Vorhaltungen."Dieser Junge", urteilte Imam Din streng, "ist ein budmash - ein richtiger Tunichtgut. Er wird mit seinem Benehmen gewiß noch im Kerker, im khana landen." Wieder schrie der zerknirschte Übeltäter auf, und Imam Din bat mich wortreich um Verzeihung."Sag dem Kleinen", befahl ich, "der Sahib sei ihm nicht böse, und nimm ihn mit."Imam Din verkündete dem Missetäter, der sich das Hemd inzwischen um den Hals gewickelt hatte, meine Vergebung, und das Heulen verebbte zu einem Schluchzen. Die beiden wandten sich zur Tür. "Er heißt Muhammad Din", sagte Imam Din, als ob der Name etwas mit dem Vergehen zu tun hätte, "und er ist ein budmash."Unmittelbarer Gefahr entronnen, drehte sich Muhammad Din in den Armen seines Vaters um und sprach feierlich: "Ja, es stimmt, ich heiße Muhammad Din, Tahib, aber ich bin kein budmash. Ich bin ein Mann!"Von diesem Tag an war ich mit Muhammad Din bekannt. Er betrat nie mehr mein Speisezimmer, aber im Garten, auf neutralem Boden, grüßten wir einander mit großer Förmlichkeit, auch wenn sich unser Gespräch auf ein "Talaam, Tahib" von ihm und ein "Salaam, Muhammad Din" von mir beschränkte. Täglich tauchten das weiße Hemdchen und die pummelige kleine Gestalt aus dem bergenden Schatten des grün überwucherten Spaliers auf, wenn ich von der Arbeit zurückkehrte, und täglich zügelte ich hier das Pferd, damit mein Gruß nicht achtlos oder unhöflich ausfiel.Muhammad Din hatte niemals Gefährten. Er pflegte in geheimnisvoller, selbstauferlegter Mission kreuz und quer zwischen den Rizinusbüschen über den Hof zu laufen. Eines Tages stieß ich in einer entlegenen Ecke des Grundstücks zufällig auf eines seiner Werke. Er hatte den Poloball halb im Staub vergraben und darum herum sechs verblühte Ringelblumen in den Boden gestec Leseprobe