Beschreibung
Den Kaffee hat er bezahlt, jetzt steht er vor dem Restaurant auf der Paßhöhe, aber anstatt sich in sein Auto zu setzen und seinen nächsten Termin wahrzunehmen, schlägt er den Weg hinauf zu dem weiter oben gelegenen Denkmal ein. Eine kleine Wanderung wird ihm guttun - doch so beschwingt der Ausflug beginnt, dieser Mann wird nie mehr in seinen Alltag zurückfinden. Mit einem knapp einhundert Jahre alten Mann geht eine ebenso plötzlich einsetzende Veränderung vor, als er von der Bombe hört, die im Lago Maggiore gefunden wurde. Er muß wieder an seine Zeit als junger Mann bei den Kommunisten denken, denn bei dieser Bombe handelt es sich zweifellos um jene, mit der er in den 20er Jahren Europas Außenminister bei ihrem Treffen in Locarno in die Luft sprengen wollte - es bei der Absicht aber beließ. Keineswegs nur mit dem Schrecken kommt die Familie davon, als eines Tages eine asiatisch aussehende Frau in ihrer Waschküche steht und kein Wort redet. Der befreundete Parapsychologe ist ratlos, und auch der Ehemann sucht vergeblich sein Heil in der Philosophie: 'Es gebe eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen', liest er kopfschüttelnd, und ihm ergeht es, wenn er an die Fremde denkt, wie den anderen Figuren in Hohlers mit bewundernswerter Lust am Erzählen geschriebenen Geschichten. Er erlebt eine merkwürdige Rückeroberung: Eine unbekannte Welt macht der verbrauchten Rationalität ihren Platz streitig - und von dieser Welt geht ein gefährlich schöner Sog aus.
Autorenportrait
Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag.
Leseprobe
Die Torte Wer vom Bahnhof in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute in farbigen M?tzen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und St?hle sind ?ber verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinauff?hren, zum Grand Hotel Locarno, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und ?ppigen Rhododendronb?schen, mit seiner m?tigen Mittelterrasse, auf der zwischen S?en mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen. Wollen Sie weitergehen zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu h?ren, die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat? Erfahren habe ich sie in einem Geb?e, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal un?lich sieht, einem Altersheim in einem der T?r hinter Locarno. Etwas bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Eckt?rme zur?ckversetzt, mit einem gro?n gepflasterten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola m?ndet, aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben prangt, steht beim Altersheim in unverg?licher Mosaikschrift der Name des Stifters. In dieses Altersheim f?hrte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unz?igen Grundst?cke zu vereinfachen und den Besitzern Vorschl? zur Zusammenlegung oder zu Abt?chen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines St?ck Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich beschlo? den Besitzer des Nachbargrundst?cks aufzusuchen. Der lebte seit kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich ?ber meinen Besuch, klagte ?ber sein abnehmendes Augenlicht und ?ber seine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, so da?er kaum mehr gehen k?nne, kurz, ?ber das ganze zusammenbrechende System seines K?rpers, f?r das man auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der alten Kastanienb?e und erz?te mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 St?ck Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine einzige Kuh ?brig geblieben ist. W?end unseres Gespr?s lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb ge?ffnetem Mund im Bett und lie?nur von Zeit zu Zeit ein leises St?hnen h?ren. Als ich ihn einmal fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht. ?Er h?rt nichts mehr?, sagte mein Bekannter, ?er ist bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.? Wir fuhren mit unserm Gespr? fort, und ich fragte, ob es fr?her auch schon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und sagte: ?Un giorno vanno trovare la torta.? ?Eines Tages werden sie die Torte finden?, und lie?seinen Kopf wieder sinken. Mein Bekannter l?elte und sagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegen nur ?la torta?, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was der Grund daf?r sei, wisse niemand, und es k?n auch keine Familienangeh?rigen zu Besuch, die man fragen k?nne. Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich ?ber ihn und fragte: ?Dove vanno trovare la torta?? ?Wo werden sie die Torte finden?? Ohne die Augen zu ?ffnen, sagte er: ?Nel lago.? ?Im See.? Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, da?die Seepolizei k?rzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine gro? Blechschachtel mit der Aufschrift ?Grand Hotel Locarn Leseprobe