Beschreibung
»Unheimlich, spannend, aberwitzig und kaum zu fassen einfach fantastische Literatur«Jurybegründung Deutscher Buchpreis (Shortlist)Ein Ort, der nicht gefunden werden will. Eine österreichische Gräfin, die über die Erinnerungen einer ganzen Gemeinde regiert. Ein Loch im Erdreich, das die Bewohner in die Tiefe zu reißen droht. In ihrem schwindelerregenden Debütroman geht Raphaela Edelbauer der verdrängten Geschichte auf den Grund.Der Unfalltod ihrer Eltern stellt die Wiener Physikerin Ruth vor ein nahezu unlösbares Paradox. Ihre Eltern haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit begraben zu werden, doch Groß-Einland verbirgt sich beharrlich vor den Blicken Fremder. Als Ruth endlich dort eintrifft, macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Unter dem Ort erstreckt sich ein riesiger Hohlraum, der das Leben der Bewohner von Groß-Einland auf merkwürdige Weise zu bestimmen scheint. Überall finden sich versteckte Hinweise auf das Loch und seine wechselhafte Historie, doch keiner will darüber sprechen. Nicht einmal, als klar ist, dass die Statik des gesamten Ortes bedroht ist.Wird das Schweigen von der einflussreichen Gräfin der Gemeinde gesteuert? Und welche Rolle spielt eigentlich Ruths eigene Familiengeschichte? Je stärker sie in die Verwicklungen Groß-Einlands zur Zeit des Nationalsozialismus dringt, desto vehementer bekommt Ruth den Widerstand der Bewohner zu spüren. Doch sie gräbt tiefer und ahnt bald, dass die geheimnisvollen Strukturen im Ort ohne die Geschichte des Loches nicht zu entschlüsseln sind.»Raphaela Edelbauer überschreitet Grenzen und rückt in unerforschte Gebiete der Literatur vor.«Jurybegründung Rauriser Literaturpreis
Autorenportrait
Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Außerdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman »Das flüssige Land« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman »DAVE« erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.
Leseprobe
Das Lochwar von unbekannter Tiefe, Verästelung und Feuchtigkeit. Es zog sich wie einunterirdisches Myzel unter den Bergkuppen und Siedlungen durch, brach inRöhrchen und Netzen an die Oberfläche und schob kontinentaldriftartig dasnervöse Erdreich zu grobkörnig atmenden Halden zusammen, unter denen derfaulige, pilznetzige Verfallsprozess sich eingenistet hatte. Der einzige Segenwar, dass all das so unendlich langsam geschah, dass Generation um Generation sichdie Sorge darum aufgeteilt hatte und man alibihalber jede Woche Beton inSchächte kippen konnte und genug Zeit hatte, die zerbrechenden Fensterbretter,die sich den Absenkungen geschlagen gegeben hatten, zu tauschen, bevor dieKinder aus der Schule kamen. Das Ende des Winters und die Schneeschmelze vorein paar Monaten hatten in kürzester Zeit die Hälfte der Stadt um über einen Metertiefer sinken lassen und die Straßen in einen so desolaten Zustand gebracht,dass man beim Überqueren meinte, im Morast zu waten. Sämtliche Pflastersteine, dieden historischen Belag der Stadt bildeten, waren von den Absenkungen geradezufortgesprengt worden und lagen nun lose auf den Plätzen und Straßen. Zwar hatteman zwischendurch immer wieder versucht, sie anzubetonieren, doch lösten sie sich,sobald das Loch durch eine feuchte Nacht auch nur einen Millimeter absackte.Ganzjährig herrschte akute Rutschgefahr: Wir alle waren Meister darin geworden,uns dennoch fortzubewegen. Sogar die Greise, normalerweise kaum in der Lage,auf festem Untergrund im Equilibrium zu bleiben, streckten versiert denGehstock von sich, als wären sie auf hohen Seilen unterwegs. Der Hauptplatz wardas Zentrum des Einbruchs: Auf ihm waren die Steine nicht bloß lose, sondern inder Mitte geradewegs auf einen Haufen zusammengerutscht trichterförmig fieler zum Bildnis des ehemaligen Erzengels hin ab. Dort unten, also am Tiefpunktder Parabel, hatte sich im vergangenen Monat der erste Durchbruch ins Bergwerkereignet. Dünn wie ein Nadelöhr erst, dann bald faust- und beindick. Ich sah dieseschwarze Leerstelle, von der ich durch meine Berechnungen wusste, dass sie überder tiefsten Senke des Loches lag, täglich auf meinem Weg zur Arbeit, undstellte mir vor, wie ein Stein, in diese Auslassung geworfen, hundertfünfzigMeter in den Berg einfallen würde. Fortbewegen konnte man sich über dentrichterförmigen Hauptplatz nur mehr auf seinem steinernen Pizzarand. Ich unddie anderen, die es dennoch tun mussten, schoben uns am schmalen Grat neben derHäuserfront entlang, einander höflich, wie auf einer Einfahrt, den Vorrang lassend den Bekannten zuwinkend, wenn sie sich auf der gegenüberliegenden Seite desPlatzes an den Laternen entlanghangelten. Man stand auf derselben Struktur undwar einander dennoch unerreichbar. Ich schob mich mit dem Rücken zur Wand ander Ostseite des Platzes vorbei, langsamer als sonst, weil um diese Zeit schon eineGruppe Volksschüler, vorne und hinten mit Seilen an die Lehrerinnen gespannt,auf dem Weg zur Schule war. Trotz des desolaten Zustandes ihrer Stadt hattendie Groß-Einländer frohen Mutes Blumenzwiebeln in die Pflanzkästen gesteckt,deren ausbrechende Triebe sich nun in meinem Nacken rieben. Es fühlte sich an,als wäre man stundenlang damit zugange, diesen Platz zu überqueren, dabeidauerte es nur ein paar Minuten. Das vielleicht Merkwürdigste war überhaupt, wiesehr der Rhythmus der Einbrüche sich auf das Zeitgefühl aller Groß-Einländerübertrug: In Wochen, in denen die Einbrüche rasch vor sich gingen, schien dieZeit zu rasen und man hatte kaum Gelegenheit, die vielen Veränderungen imOrtsbild zu bemerken, sodass sich in wenigen Momenten die Verwitterung von Jahrenzu ereignen schien. Blieb aber alles konstant, so nahm der Fluss der Dinge fasteine gewisse Zähigkeit an, und die Monate rollten in belangloser Indolenz über mich.Ich bemerkte dann kaum, wie ein ganzer Herbst vergangen war. So wie die Naturin der Taktung ihrer vier Jahreszeiten die Zeitwahrnehmung normalerweise beeinflusste,so sehr standen und flossen die Dinge hier mit den Absenkungen.
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