Kritische Verhältnisse

Die Rezeption der Frankfurter Schule in China

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593390093
Sprache: Deutsch
Umfang: 442 S.
Format (T/L/B): 3 x 21 x 14 cm
Auflage: 1. Auflage 2009
Einband: Paperback

Autorenportrait

Iwo Amelung ist Professor für Sinologie am Institut für Ostasiatische und Orientalische Philologien in Frankfurt. Anett Dippner ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.

Leseprobe

Einleitung: Die Herausforderungen einer Traveling theory Iwo Amelung Frankfurt und China verbindet eine lange Geschichte des akademischen Austausches. Vor allem gilt das natürlich für das 1925 von Richard Wilhelm gegründete China-Institut, das die Keimzelle der Frankfurter Sinologie darstellt. Schon früh engagierte sich aber auch das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt in der Forschung über China. Hier war es insbesondere Karl August Wittfogel, der für die China-Expertise des Instituts verantwortlich zeichnete. Wittfogels Dissertation, aus der sein Buch Wirtschaft und Gesellschaft Chinas hervorging, wurde von Richard Wilhelm als Zweitgutachter begleitet. Noch kurz vor seinem Tod äußerte sich auch Adorno, trotz aller politischen Differenzen mit Wittfogel, lobend über diese "wegweisende Arbeit über China". Nachdem Wittfogel auf Grund der politischen Verfolgung zum Verlassen Deutschlands gezwungen worden war, führte ihn sein Weg über die USA bald nach China, wo er nicht nur seine Forschungen weiterführte, sondern auch zahlreiche chinesische Intellektuelle kennen lernte. Nicht ganz klar ist, ob Wittfogel, wie von seinem Biographen Gary Ulmen behauptet, tatsächlich an der Yanjing-Universität, die später mit der Peking-Universität verschmolz, lehrte. Sicher ist jedoch, dass Wittfogel während seines China-Aufenthaltes nicht nur die Gelegenheit wahrnahm, wichtige Forschungen durchzuführen, sondern dass er auch die erste mit dem Institut für Sozialforschung verbundene Persönlichkeit war, die in China Aufmerksamkeit erregte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war er der erste Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, dessen Werk ins Chinesische übersetzt wurde: Eine der frühesten Übersetzungen war ein Kapitel aus Wittfogels Wirtschaft und Gesellschaft, das spätestens Anfang der 1940er Jahre unter dem Titel "Warum hat China keine Naturwissenschaften hervorgebracht?" (Zhongguo weishenme meiyou chansheng ziran kexue) in einer chinesischen Zeitschrift erschien. In Wittfogels ursprünglichem Buch nimmt dieses Kapitel keineswegs einen zentralen Platz ein, so dass sich die Frage stellt, warum dann gerade dieses Kapitel ins Chinesische übersetzt wurde. Ohne diese Frage hier abschließend beantworten zu können, denke ich, dass die Übersetzung gerade dieses Abschnitts als ein repräsentativer Beleg für eine chinesische intellektuelle Haltung betrachtet werden kann, die der berühmte Schriftsteller Lu Xun bereits im Jahr 1934 als "Her-damit-ismus" (nalaizhuyi) bezeichnet hat. Lu Xun lebte und arbeitete in einer Zeit, als China von westlichem Wissen geradezu überschwemmt wurde - einschließlich des revolutionären und leninistischen Wissens aus der Sowjetunion. Durch seine Forderung nach einem "Her-damit-ismus" beim Umgang mit neuem Wissen wollte Lu Xun bei seinen Zeitgenossen ein kritisches Bewusstsein schaffen, das auf der einen Seite den immer noch weit verbreiteten Skeptizismus gegenüber westlichen Ideen überwinden, auf der anderen Seite aber auch eine Abkehr von der völligen Beliebigkeit der Rezeption in die Wege leiten sollte. Lu Xuns Idee war es, nur das aus dem Westen zu übernehmen, was für China nützlich sein könnte. Da der Diskurs über das vermeintliche Fehlen einer naturwissenschaftlichen Tradition im traditionellen China in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgesprochen bedeutsam war, wurden Wittfogels Gedanken zum Thema als wichtiger Beitrag angesehen. Wenn man der Überzeugung war, dass der Nichtentstehung von Naturwissenschaften bestimmte gesellschaftliche Ursachen zu Grunde lagen, dann war die Beseitigung dieser Ursachen natürlich die Voraussetzung für die Lösung des Problems, und genau hier versprachen Wittfogels Einsichten Aufklärung. Lu Xuns "nalaizhuyi" weist uns darauf hin, dass in China die Rezeption westlichen Wissens immer eine instrumentale und damit in hohem Maße politische Funktion hatte. Von entscheidender Bedeutung und überaus erfolgreich war die Rezeption und Anwendung politischen Denkens, insbesondere natürlich des Marxismus, dessen Einsatz vordergründig die sozialen Probleme zu lösen versprach, vor allem aber dazu dienen sollte, China auf ein höheres politisches, soziales und ökonomisches Niveau zu heben, um dem Westen von Gleich zu Gleich gegenübertreten zu können. Seit Ende der 1970er Jahre standen andere Probleme im Vordergrund, insbesondere die Heilung der politischen und gesellschaftlichen Wunden, die der real existierende Sozialismus gerissen hatte. Gleichzeitig galt es, ein politisches und geistiges Modell zu finden, das den diskreditierten Kommunismus ersetzen konnte und in der Lage war, neue Ressourcen für die Legitimation des überkommenen, wenn auch transformierten politischen Modells zu erschließen. Seit den 1990er Jahren ging es in erster Linie darum, einerseits eine politische und gesellschaftliche Antwort auf die Auswirkungen der wirtschaftlichen Reformen zu finden, und andererseits eine wirksame Waffe gegen die seit der Rezeption von Saids Orientalismus in den Augen vieler Chinesen immer deutlicher hervortretenden subtilen Formen westlicher Dominanz zu entdecken.

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