Der Koloß von New York

Eine Stadt in dreizehn Teilen

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446205925
Sprache: Deutsch
Umfang: 152 S.
Format (T/L/B): 1.2 x 20.4 x 12.7 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

New York vom Morgen, wenn die Müllmänner kommen, bis in die Nacht. New York für die Eingeborenen und die Fremden, New York, beschrieben von einzelnen Stimmen an unterschiedlichen Orten wie Times Square, Brooklyn Bridge, Central Park, Coney Island oder Broadway. Colson Whitehead, New Yorker von Geburt und aus Überzeugung, zeichnet ein sehr persönliches Bild einer Stadt, in der nichts gewöhnlich ist.

Autorenportrait

Homepage von Colson Whitehead

Leseprobe

Es gibt in dieser nackten Stadt acht Millionen nackte Städte - sie widerstreiten und widersprechen einander. Das New York, in dem Sie leben, ist nicht mein New York; wie könnte es auch anders sein? Die Stadt vermehrt sich, wenn man gerade nicht hinsieht. Wir ziehen hierhin, wir ziehen dahin. Im Laufe eines Lebens kommen so eine ganze Menge Viertel zusammen, das kunterbunte Baumaterial Ihrer zusammengestoppelten Metropole. Ihre bevorzugten Zeitungskioske, Restaurants, Kinos, U-Bahn-Stationen und Friseursalons werden von denen Ihres nächsten Viertels abgelöst. Das läppert sich. Im Handumdrehen haben Sie Ihre eigene, persönliche Skyline. Kehren Sie an Ihre alten Lieblingsplätze in Ihren alten Vierteln zurück, und Sie stellen fest: Sie sind geblieben und verschwunden. Die Imbißbude, das Feinkostgeschäft, die Reinigung, die Sie ausgekundschaftet haben, als Sie hier ankamen und versuchten, in diesen Straßen heimisch zu werden: sie sind fort. Aber schauen Sie hinter die Fenster des Reisebüros, das Ihre Pizzeria ersetzt hat. Jenseits der Schreibtische, Computer und Werbeplakate für tropische Abenteuer können Sie immer noch abkühlende Pizzen sehen, den neben einem halben Stück liegenden Pizzaschneider, die Landkarte von Sizilien an der Wand. Es ist immer noch alles da, das versichere ich Ihnen. Der Mann, der gerade einen Flug nach Jamaika bezahlt hat, sieht nichts davon, sieht nur seine romantische Flucht, seinen Familienurlaub, das, was dieser kleine Laden in dieser kleinen Straße ihm gewährt hat. Die verschwundene Pizzeria ist noch da, weil Sie da sind, und wenn der Schönheitssalon das Reisebüro ersetzt, wird der Gentleman immer noch seine Ferienreise bekommen. Und die Lady ihre Maniküre. Sie müssen schlucken, wenn Sie feststellen, daß das alte Cafe jetzt die Filiale einer Apothekenkette ist, daß der Ort, wo Sie Soundso zum ersten Mal geküßt haben, jetzt einen Elektronik-Discounter beherbergt, daß dort, wo Sie ebendieses Jackett gekauft haben, Schutt hinter einem blaugestrichenen Sperrholzzaun und ein künftiges Bürogebäude liegen. Ihrer Stadt ist Schaden zugefügt worden. Sie sagen, es sei über Nacht passiert. Aber das stimmt natürlich nicht. Ihre Pizzeria, sein Schuhputzerstand, ihr Hutgeschäft: als es sie noch gab, haben wir sie geringgeschätzt. Gut möglich, daß der Laden dichtgemacht hat, kurz nachdem Sie das letzte Mal zur Tür hinausspaziert sind. (Vor zehn Monaten? Sechs Jahren? Fünfzehn? Sie wissen es nicht mehr, stimmt¿s?) Und vor dem Reisebüro gab es an dieser Stelle fünf Geschäfte. Fünf verschiedene Viertel, die zwischen damals und heute entstanden und verschwunden sind, andere Städte anderer Leute. Oder fünfzehn, fünfundzwanzig, hundert Viertel. Tausende von Menschen kommen jeden Tag an dieser Ladenfront vorbei, jeder verkehrt in den Straßen seines eigenen New York, und keiner von ihnen sieht das gleiche. Nie können wir uns richtig verabschieden. Es war Ihre letzte Fahrt in einem Checker-Taxi, und Sie wurden nicht vorgewarnt. Es war das letzte Mal, daß Sie in diesem irgendwie zwielichtigen China-Restaurant Lake Tung Ting Shrimps aßen, und Sie hatten keine Ahnung. Wenn Sie es gewußt hätten, wären Sie vielleicht hinter den Tresen gegangen und hätten jedem die Hand gegeben, hätten die Kamera hervorgeholt und den Leuten gesagt, wie sie sich hinstellen sollen. Aber Sie hatten keine Ahnung. Es gibt unangekündigte Wendepunkte: Wir schließen die Eingangstür einer Wohnung nur soundso viele Male auf. Irgendwann waren Sie dem letzten Mal näher als dem ersten Mal, ohne es zu wissen. Sie wußten nicht, daß Sie sich jedesmal, wenn Sie die Schwelle überschritten, verabschiedeten. Ich hatte nie Gelegenheit, mich von einigen meiner alten Gebäude zu verabschieden. In manchen habe ich gewohnt, andere gehörten zu einer Skyline, von der ich glaubte, es werde sie immer geben. Und sie hatten nie Gelegenheit, sich von mir zu verabschieden. Ich glaube, das hätten sie gern getan - ich weigere mich, sie für gleichgültig zu hal ... Leseprobe