Das Tuch aus Nacht

Roman

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442733439
Sprache: Deutsch
Umfang: 320 S.
Format (T/L/B): 2.3 x 18.7 x 11.8 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Das furiose Portrait des spätherbstlichen Istanbul - und die Geschichte einer herzzerreißenden Liebe. Istanbul im November 1994: Ein Mann wird in einem Hotel erschossen. Eine alte Liebe zerbricht. Eine neue Liebe entsteht. Und dazwischen ein trinkender und mit dem Leben hadernder Künstler, dem die Wahrheit zur Obsession und die Wirklichkeit zur Chimäre wird. Bis der Tod sich bei ihm holt, was ihm längst schon gehört. Seltsam unwirkliche Dramen spielen sich ab vor der Kulisse jener Stadt zwischen Orient und Okzident, zwischen Fama und Wirklichkeit. Zwischen dem Glanz der Geschichte und der Hektik der Moderne.

Autorenportrait

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand "Tage in Tokio" (2021) und "Der Sandkasten" (2022).

Leseprobe

1. 'TAKE CARE of you, baby.' Ich frage mich, wie Albin auf diesen lächerlichen Satz gekommen ist. Er kann ihn fast nicht gehört haben. Höchstens bei sehr starkem und ablandigem Wind. Unter normalen Umständen liegt das Otelo Sultan viel zu weit vom The Duke's Palace Hotel entfernt. Von hier aus ist unmöglich zu verstehen, was dort gesprochen wird. Außerdem müßte es 'Take care of yourself, baby' heißen. Livia hat mir später erzählt, im Detail und unter vier Augen, doch von Wind sagte sie nichts, daß es ein kalter Morgen war, die Frühsonne leuchtend gelb über dunklen, tiefhängenden Wolkenbändern, eine unbestimmte Wetterlage, vielleicht würde der Tag freundlich werden, vielleicht zöge neuer Regen auf, wie gestern und vorgestern. Angenehmes Licht, gestreut, aber klar. Albin schwieg, obwohl sie sich nicht gestritten hatten. Er sah fahl aus, kaute lustlos an einem Sesamkringel und trank Unmengen Kaffee. Trotz allem ein schöner Mann, dachte Livia, schön wie Kreidefelsen. Sie war hungrig aufgewacht, hatte sich am Buffet Oliven, Schafskäse, Bratwurst und Schinkenei auf den Teller geladen, was Albin zum Frühstück anwiderte. Ausnahmsweise machte er keine Bemerkung. Sie kannten sich lange genug, um die Stille nicht peinlich zu finden, so daß es auch für Livia keinen Grund gab, sie zu durchbrechen. Trotzdem hatte eindeutig Albin das Schweigen angefangen. Sie wäre bereit gewesen, den Tag zu planen, über die rätselhafte Akne-Epidemie unter den Kellnern zu spekulieren, über Millers Geschäfte. Dann sagte er ohne erkennbaren Zusammenhang und mit halbvollem Mund: 'Die Minarette stecken im Himmel wie Akupunkturnadeln. Um die Kräfte rechtzuleiten.' Erwartete jedoch keine Antwort. Der Vergleich gefiel ihr, sie drehte sich um, denn das war seine Aussicht, die Stadt mit den zahllosen Moscheen, der gedeckte Basar, wohingegen sie über abschüssige Gassen aufs Meer sah und den Blick hatte schweifen lassen, gedankenverloren, schlafwarm. Plötzlich - vorher war ihr nichts aufgefallen, aber nach Albins Bemerkung schaute sie vielleicht schärfer hin -, plötzlich brannte am Horizont, der ihr seltsam links abgerutscht und viel näher als zuvor erschien, dieses Schiff. Es lag schon sehr schräg im Wasser und würde jeden Moment sinken. Der Rauch flatterte als dünne schwarze Fahne nach Südwesten. Sie erwartete eine lautlose Explosion, zumindest das Auflodern der Flammen. Daß Menschen in Gefahr oder überhaupt nur an Bord sein könnten, kam ihr nicht in den Sinn und auch nicht, Albin auf den Untergang hinzuweisen. Sie überlegte einen Moment, ihre Kamera aus dem Zimmer zu holen, nicht, weil sich die Bilder gut hätten verkaufen lassen, Unglück verkauft sich immer gut, sondern - und da stockte Livia, zuckte mit den Achseln, zündete sich eine Zigarette an -, sondern weil sie etwas befremdete, irgend etwas war falsch. Während sie es mir erzählte, wußte sie immer noch nicht, was genau die Verunsicherung ausgelöst hatte, jedenfalls blieb der Photoapparat im Zimmer. Und dann war es gar nicht der Horizont und auch kein Schiff, sondern lediglich eine endlos lange Hafenhalle, die immer wieder zwischen den Häuserblöcken auftauchte, mit einem rot-weiß gestreiften Kaminaufbau, aus dem gewöhnlicher Heizungsrauch stieg. An der Stelle lachte Livia, beziehungsweise hätte sie am liebsten gelacht, blieb aber im Ansatz stecken und schüttelte den Kopf, denn ihr Befremden hatte sich mit dem Umkippen des Bildes keineswegs aufgelöst, im Gegenteil: Eine Bodenlosigkeit war zurückgeblieben, wie wenn man auf einmal die Uhr nicht mehr lesen kann oder seinen Schlüssel in eine fremde Tür gesteckt hat. Nachdem Albin seinen Sesamkringel zu drei Vierteln gegessen hatte, ging er auf die Dachterrasse, um den beiden Hausmöwen den Rest hinzuwerfen. Er wußte, daß sie sich darum streiten würden. Sobald der Brocken über die Fliesen kullerte, breiteten sie die Schwingen aus, hüpften umeinander, fauchten böse, und ihre dünnen Zungen zuckten wie Messer. Das konnte Livia vom Frühstückstisch aus noch g Leseprobe