Beschreibung
Autumn Manning ist die einzige Überlebende eines Anschlags auf die Chicagoer Hochbahn. Ein Jahr nach dem Unglück lebt sie immer noch sehr zurückgezogen. Schuldgefühle machen ihr zu schaffen: Warum hat sie als Einzige überlebt? Warum hat Gott das Unglück zugelassen? Eines Tages steht Reese, die junge Tochter eines Opfers, vor ihrer Tür. Sie will ein Gedenkvideo für ihre Mutter produzieren und bittet Autumn um Hilfe. Ihr Vater, der Psychiater Paul Elliott, ist alles andere als begeistert von dieser Idee. Liegt es daran, dass Autumn nach dem Anschlag zunächst für seine Frau Vivian gehalten wurde? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter? Als Autumn und Reese sich gemeinsam auf Spurensuche begeben, stoßen sie auf mehr als ein dunkles Geheimnis - und entdecken, wie erleichternd es sein kann, endlich die Wahrheit zu wissen! Eine fesselnde Erzählung über Leid, Trauer und die Rückkehr ins Leben; extrem hoffnungsvoll und voller überraschender Wendungen.
Autorenportrait
Katie Ganshert war Lehrerin, bis ihr der Durchbruch als Romanautorin gelang. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Für "Das Motel der vergessenen Träume" bekam sie in den USA einen Preis für den besten zeitgenössischen christlichen Roman des Jahres verliehen.
Leseprobe
1. Kapitel Sirenen heulten. Eine Frau schrie. Eine unaussprechliche Hitze streckte schwere Finger aus, grub sich in ihr Fleisch und zog sie in die Dunkelheit. Verkohlte Handschuhe umschlossen ihre Handgelenke und zogen sie aus dem Wrack, während Flammen die Welt verschlangen. Autumn Manning fuhr aus dem Schlaf hoch. Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, während sie die Geräusche beiseiteschob und wie eine unerwünschte Decke weg- strampelte. Sie trat nach den Laken, die ihre Beine bedeckten, und fasste sich ins Gesicht, um an Schläuchen zu ziehen, die nicht mehr da waren. Schläuchen, die bereits vor vielen Monaten entfernt worden waren. Panik stieg in ihr auf. Sie kratzte in ihrer Brust und ließ sie im Bett hochfahren. Es war nur ein Albtraum. Sie war nicht von einem brennenden Wrack umgeben. Es gab kein Krankenhaus und keine piepsenden Monitore. Sie befand sich im Schlafzimmer ihrer Wohnung, wo alles ruhig und still und sicher war. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte 3.36 Uhr an - eine Uhrzeit, mit der man eigentlich nichts zu tun haben wollte. Aber drei Uhr nachts und Autumn waren inzwischen gut miteinander bekannt. Um drei Uhr verwandelte der Schlaf sich in ein Irrlicht und verspottete sie, indem er vor ihrer Nase davontanzte und sich nicht mehr einfangen ließ. Es war besser, es gar nicht erst zu versuchen. Sie schwang die Beine aus dem Bett und schob die Füße in ein Paar Hausschuhe. Dann schob sie die Arme in den Bademantel, der an einem ihrer Bettpfosten hing, und schlurfte an dem Wandschrank vorbei, über den ihre Familie sich Sorgen machte. Zehn Minuten später saß Autumn mit einem heißen Tee und untergeschlagenen Beinen in einem Sessel und klickte sich durch die verschiedenen Netflix-Optionen, während sie versuchte, die Geister zu ignorieren, die sie vom Flur aus riefen. Sie hatte ihrer Schwester versprochen, dass sie aufhören würde. Dass sie einen Weg finden würde, mit all dem abzuschließen. Aber nachts waren die Toten am lautesten. Dampf stieg in dünnen Fäden zu ihrem Kinn hinauf. Autumn wählte eine Folge der Gilmore Girls aus und wandte sich dann dem Puzzle zu, das auf dem Couchtisch ausgebreitet lag. Je mehr Dinge sie ablenken konnten, desto besser. Fernsehen, Tee, Puzzle. Dieses trug den Titel 'Waldwichtel' und war besonders schwierig, weil die meisten Teile die gleiche graubraune Farbe von Baumrinde hatten. Gedankenlos knibbelte sie an der Nagelhaut eines Daumens, während sie ein Puzzleteil mit einem Stück vom Hut des Wichtels suchte. Knibbel, knibbel, knibbel, bis ihre Haut brannte. Sie steckte den Daumen in den Mund und lutschte daran, dann zog sie ihn wieder heraus und sah zu, wie sich ein roter Blutstropfen bildete. Wenn sie kein Pflaster darummachte, würde sie weiter daran knibbeln - eine unschöne Angewohnheit, die sie sich als Mädchen zugelegt hatte. 'Hör auf zu knibbeln, Liebling', hatte ihre Mutter immer gesagt, wenn sie einen Blick in den Rückspiegel ihres Buicks auf ihre Tochter warf. 'Deine Nägel sehen schrecklich aus.' Autumn ging ins Bad, wo sie ihren Daumen mit einem hellgrünen Pflaster versah und dann ihr Bild im Spiegel anstarrte. Eine gerade Narbe verlief quer über ihre Schläfe. Eine federartige tüpfelte ihren rechten Unterkiefer wie weiße Bartstoppeln - so leicht inzwischen, dass man genau hinsehen musste, um sie zu bemerken. Es gab noch eine Narbe an ihrer Schulter, wo sie operiert worden war - diese sah schlimmer aus als die anderen. Aber das war alles. Das einzige äußerliche Zeichen, dass sie überhaupt etwas überlebt hatte. Drei verblasste Narben, wo die Haut zerrissen, aber anschließend gedehnt und wieder zusammengefügt worden war. Die lustigen Dialoge der Gilmore Girls drangen über den Flur herüber. Autumn wusste, dass sie zu ihrem Sessel und ihrem Tee zurückkehren und an ihrem Puzzle weiterarbeiten sollte, während Taylor Doose versuchte, die Bürger von Stars Hollow zur Ordnung zu rufen. Wenn die Folge zu Ende war, könnte sie den Kühlschrank ausräumen - und ihn mit Backpulver und Essig auswischen, bis sie eine Möglichkeit fand, den merkwürdigen sauren Geruch zu beseitigen, der ohne Sinn und Verstand immer wieder kam und ging. Wenn sie damit fertig war, könnte sie ihre Schuhe schnüren und eine frühe Morgenrunde joggen. Aber morgens um drei Uhr war die Versuchung zu groß, als dass sie ihr hätte widerstehen können. Sie fühlte sich unweigerlich zu den Dingen hingezogen, die sie wegzuwerfen versprochen hatte. Resigniert nahm sie eine Schere, das Exemplar der Chicago Tribune mit den Artikeln, die sie vor dem Schlafengehen gelesen hatte, und den Ordner aus dem obersten Fach des Wandschranks im Flur. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und rutschte bis zum Boden hinunter, wo sie die jüngste Schlagzeile ausschnitt. Tragödie auf den Gleisen: ein Jahr danach Die Kommission, die für die Errichtung eines Denkmals zuständig war, hatte sich mit einem Künstler der Stadt zusammengetan, um einen Brunnen zu entwerfen. Sie hatten sich für einen großen Phönix aus Stahl entschieden, der aus dem Wasser aufsteigt. Ein Symbol der Hoffnung. Schönheit aus der Asche. Ein Versprechen, das in Autumns Leben bisher noch nicht zur Erfüllung gekommen war. Selbst die Schönheit der Gerechtigkeit gab es für sie nicht. Der Bombenleger Benjamin Havel war immer noch auf freiem Fuß. In den Boden um den Brunnen herum waren zweiundzwanzig rote Ziegel eingelassen, jeder mit einem Namen versehen. In der Nähe erläuterte eine Tafel, wofür das alles stand. Es war eine Tafel, die kaum jemand lesen würde, und irgendwann würde der Brunnen nicht mehr sein als ein nasser Mülleimer für überflüssige Pennys und altes Kaugummi. Autumn seufzte. Hatte Chad recht? War sie zynisch geworden? Sie schnitt den Artikel zu Ende aus und versuchte, nicht an die Sprachnachricht des Kommissionsvorsitzenden zu denken, mit der er sie eingeladen hatte, bei der Einweihungszeremonie das Band durchzuschneiden. Oder an Claires ungläubiges Staunen, als Autumn ihr erzählt hatte, dass sie nicht hingehen würde. 'Du willst wirklich nicht dabei sein?', hatte sie gefragt. 'Glaub mir', hatte Autumn geantwortet, 'diese Familien wollen mich dort nicht sehen.' Warum sollten sie auch? Für sie war ihr Anblick Salz in einer offenen Wunde. Eine bittere Erinnerung. Ein grausames Fragezeichen. Warum hat diese Frau überlebt und mein Mann (mein Vater, meine Mutter, mein Sohn, meine Tochter, meine Freundin) nicht? Was ist an ihr so besonders? Autumn wollte die Fragen, die ihr selbst keine Ruhe ließen, nicht in den Augen der anderen sehen. Und sie weigerte sich, ein Maskottchen zu sein. Wenn sie ging, würde sie eine Ablenkung sein. Ein Schauspiel. Der Blickpunkt. Bei dem Denkmal ging es aber nicht um sie. Es ging um die anderen - diejenigen, die nicht überlebt hatten. Sie musste keine Bänder durchschneiden, um an diese Menschen zu denken. Das tat sie jeden Tag. Jede Nacht. Während die Stadt schlief, trieb dieser Gedanke sie immer wieder um. Ihr Blick wanderte zu dem Ordner auf ihrem Schoß. Sie blätterte an dem Stapel aus Nachrufen vorbei - die allesamt geschrieben und veröffentlicht worden waren, während sie noch bewusstlos gewesen war. Als sie die Augen aufgeschlagen hatte, waren die Toten bereits beerdigt gewesen. Autumn musste ihre Namen im Internet recherchieren, um ihre Geschichten zu lesen, und alte Zeitungen aus Büchereien sammeln, um etwas Greifbares zu haben. Zum Kummer ihrer Familie hatte sie sich in ein trübsinniges Kind verwandelt, das einen Satz Sportkarten sammelte, entschlossen, alle ihre Lieblingsspieler zu finden. Nur dass sie bei jedem Fund kein Kaugummi erhielt, sondern einen Messerstich ins Herz. Sie blätterte durch die gesammelten Todesanzeigen, bis sie zu den Briefen kam - alle von ein und demselben Absender. Die ersten davon waren gekommen, kurz nachdem sie aufgewacht war und die Medien sich auf sie gestürzt hatten. Zuerst hatten die Briefe sie nur verwirrt. Doch irgendwann ergaben sie einen Sinn. Autumn wusste, wie es war,...