Beschreibung
Zeit: Die allerbeste, nämlich Mitte siebziger Jahre. Ort: Eine Kleinstadt mit Fußgängerzone, Kino und Autobahnanschluss irgendwo zwischen Köln und Aachen. Held: Roxy (eigentlich Paul), knapp achtzehn Jahre, Außenseiter, Analphabet (deswegen Radio- und Schulfunk-Fan), Hilfsarbeiter, Deserteur und schließlich Zivi im Krankenhaus; verliebt sich ziemlich aussichtslos in Sonja, Tochter aus gutem Hause. Personal: Sonja, Gymnasiastin, trifft bei Hausarbeiten über den Röhmputsch auf Roxy, der alles darüber weiß. Herr Kessler, Fabrikant, erklärt Roxy zum Arbeiterdenkmal, schmeisst ihn raus und trifft ihn, angeblich todkrank, im Krankenhaus wieder. Franz Kafka, Autor der Erzählung 'Die Verwandlung', die Roxy als Vorlage für erste Schreibübungen nutzt. Zippi, Wohngenossin von Roxy und Kämpferin für die Anerkennung der DDR. Schuppe, immer ohne Geld, aber einfallsreich, vermietet seinen Balkon an Voyeure. Han, sehr kleine und sehr höfliche Koreanerin, schützt Roxy vor dem Chefarzt. Adamski, der sich Weihnachten aus Angst vor Einsamkeit ins Krankenhaus schmuggelt. Und viele andere mehr: Mütter, deren Liebhaber, ein Swimming Pool, eine Milchbar, Studenten, die Musik aus Sklavenhalterstaaten nicht mögen, Zigaretten namens Güldenring, Ernte 23, Milde Sorte - und natürlich Roxy Music. Ein Roman über das unangepasste Leben junger Leute, 'outcasts' am Rande einer scheinbar sehr heilen Gesellschaft. Geschrieben wie ein Roadmovie: schnell, witzig, schroff und manchmal melancholisch. Mit seltsamen Vögeln, die einem zufliegen, als hätte man sie schon lange gekannt. Mit Geschichten, die so schräg und witzig sind, dass man sie gerne weiter erzählt. Und mit einem Plot, dessen Ende dem Helden trotz hohen Risikos unglaubliches Glück einspielt. Ein Buch, vor dem man warnen muss: Es macht süchtig!
Autorenportrait
Dietmar Sous, 1954 in Stolberg (Rheinland) geboren, überlebte dort eine Leistenbruchoperation und das altsprachliche Goethe-Gymnasium. Mit 27 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman 'Glasdreck' (1981 im Rotbuch Verlag). Seither zahlreiche Veröffentlichungen von Erzählungen und Romanen, zuletzt 2012 'Sweet about me' (Knaus).
Leseprobe
1 Nachdem Kroll und ich Rasenmäher, Fächerbesen und zwei leere Kanister aus Stahlblech, in denen Pflanzengift gewesen war, auf der Ladefläche des Hanomag verstaut hatten, fuhren wir zur Firma zurück. Ich zog die Arbeitshandschuhe aus, in meinem rechten Daumen steckte ein Dorn von einer Brombeerranke, den ich nicht rauskriegte. Gartenbau und Landschaftsgestaltung hörte sich nicht schlecht an, klang vielleicht sogar ein bisschen künstlerisch. Versailles, der Englische Garten und so. Aber Kroll und ich kannten nur Unkrautbekämpfung, Rasen mähen und Heckenkosmetik. Fahrtwind föhnte meine verschwitzten Haare, kühlte den Sonnenbrand auf den Armen und im Gesicht. Meine Cola hatte Badewassertemperatur. Ich schaltete das Radio ein. Wetter-Gequatsche. Der Mai 1973 war angeblich der heißeste im Rheinland seit 1959. Ich freute mich auf die Dusche und das Hörspiel am Freitagabend im Westdeutschen Rundfunk. Das Totenschiff von B. Traven. Draußen Frauen, die kaum mehr als Sonnenbrille und Handtasche trugen. Kroll hupte, winkte, pfiff hinterher. Der neue Hit von Elton John wurde wegen der Siebzehn-Uhr-Nachrichten ausgeblendet. Bundeskanzler Willy Brandt hatte in Bonn versprochen, die Krise nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Brandt gegenüber hatte ich ein schlechtes Gewissen. Bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr war ich zum ersten Mal wahlberechtigt gewesen. Ich wollte meine Stimme Brandt und seiner Partei geben. Allerdings hatte ich zu der Zeit was mit den Augen. Juckreiz, verschwommene Sicht. Als ich aus der Wahlkabine rauskam, war ich nicht sicher, ob ich alles richtig gemacht oder nicht doch aus Versehen die CDU angekreuzt hatte. Oder die Nazis. Bohrende Zweifel seitdem. Auf Sizilien war ein Vulkan aus dem Koma erwacht, meldete der WDR jetzt. Riesenärger in Nahost, und auch in Südamerika gab es Grenzstreitigkeiten. Das brachte mich auf Paraguay und seinen Krieg gegen die Allianz aus Brasilien, Argentinien und Uruguay. Von 1864 bis 1870 hatte sich das kleine Land nicht von den großen Nachbarn unterkriegen lassen, dabei die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. 'Das Leben ist eben kein Zuckerschlecken', sagte Kroll und schaltete auf einen Schlagersender um. Ich bin verliebt in die Liebe. Kroll summte und pfiff. Er parkte ein, zeigte auf eine Hauswand, an der ein Zigarettenautomat hing und reichte mir ein Zweimarkstück. 'Güldenring.' 'Du rauchst doch gar nicht.' 'Für meine Frau. Los, mach schon!' 'Hol dir die scheiß Glimmstängel doch selbst!' Kroll schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad und drohte, dem Chef zu sagen, dass ich faul und zu nichts zu gebrauchen sei. Dass sich ein Hundertjähriger auf Krücken dreimal schneller bewegte als ich. Es wurde mal wieder brenzlig. Seit ich aus der Schule raus war, hatten sie mich schon dreimal gefeuert. Schrottplatz, Müllabfuhr, zuletzt bei Rhemabau. Das war die Abkürzung für Rheinische Maschinenbau AG. Eugen Kessler, der Fabrikbesitzer, hatte bei meinem Rausschmiss höchstpersönlich Hand angelegt. Jeden Freitagnachmittag gegen halb zwei spazierte er mit seinem fünfjährigen Sohn an der Hand durch die Werkshallen, umschwirrt von nervösen Ingenieuren in weißen Kitteln und panischen Meistern in Grau. Kessler sah den Arbeitern über die Schulter, er inspizierte, lobte und rügte. Der Schwarm nickte, lachte oder blickte ernst, wenn der Chef nickte, lachte oder ernst blickte, und zum Schluss gaben Kessler und sein Erbe einem der zweihundert Arbeiter die Hand. Der Senior unterhielt sich ein bisschen mit dem Glücklichen, der nicht selten vor Stolz errötete. Ich fand das Theater um die wöchentliche Chefvisite zum Kotzen. An meinem letzten Tag in der Fabrik hatte ich wie immer freitags seit sechs Uhr früh gekehrt, geputzt und die Maschinen blank gerieben. Als Vater und Sohn samt Hofstaat einmarschierten, war meine Arbeit getan. Ich wollte nicht kehren, wo es nichts zu kehren gab, nicht aufgedreht wie die anderen wirbeln, nicht vor Eugen Kessler kriechen. Lächelnd blieb er einen Meter vor mir stehen. So nahe war er mir noch nie gekommen. Er war kleiner, als ich gedacht hatte. Dichte graue Haare, weißes Hemd mit kurzen Ärmeln. Sein Sohn: blass, schüchtern. 'Schau mal, Robert! Weißt du, was das hier ist?' Der Junge schüttelte den Kopf und sah auf seine Schuhe. Ingenieure und Meister gaben mir hektisch Zeichen, meinen Arsch zu bewegen. Ich wollte mir aber keinen Besen schnappen oder ein Werkstück, es von hier nach da schleppen, dann von da nach dort und zurück von dort nach da und hier. 'Das hier, Robert, nennt man ein Arbeiterdenkmal', sagte Kessler und zeigte auf mich. 'Ein Arbeiterdenkmal will Geld ohne Gegenleistung. Diebstahl nenne ich das. Du doch auch, Robert?' Der Junge schwieg. Übereifrige, wahrscheinlich sinnlose Hammerschläge auf Metall. Bohr-, Schleif- und Fräsgeräusche. Da war eine verdammte Hitze in der Halle, und es roch nach Metallspänen und ranziger Kühlflüssigkeit. 'Lauter, Robert, was hast du gesagt? Diebstahl, nicht wahr?' Der Junge nickte mit gesenktem Kopf. Kessler nahm sich eine Zigarette aus einem silbernen Etui. Beflissen gab ihm einer der Ingenieure Feuer. Dann wischte der Boss mich mit einer knappen Handbewegung weg. Ich rauchte nicht, weil man davon Mundgeruch und gelbe Zähne kriegt. Ernte 23 kannte ich trotzdem. Leuchtendes Orange und die Zahlen 2 und 3. Die Marke kam 1924 auf den deutschen Markt. Und weil Tabak aus dem Jahr 1923 verwendet worden war, Orienttabak aus Nordgriechenland, hat die Firma Reemtsma ihre neue Sorte Ernte 23 genannt. Peter Stuyvesant war auch leicht zu erkennen. Weiße Packung mit einem dicken roten Streifen. Der Duft der großen weiten Welt. Bevor meine Mutter angefangen hatte, jeden Pfennig für einen Mercedes-Sportwagen zu sparen, hatte sie Stuyvesant geraucht. Weil in unserem Viertel immer wieder Automaten aufgebrochen und sogar aus der Hauswand gerissen worden waren, gab es, wenn die Geschäfte geschlossen hatten, Zigaretten nur noch bei den Merzenichs. Die hatten einen Automaten in ihrem Schlafzimmer hängen. Wie alle anderen Kunden musste ich dreimal kurz und einmal lang schellen. Nach einiger Zeit wurde die mit einer dicken Kette gesicherte Haustür einen Spalt weit geöffnet, durch den man das Geld reichte und die gewünschte Marke rief. Dann ging man ums Haus herum und erhielt durch das Schlafzimmerfenster, aus dem manchmal Plumeaus und Kopfkissen zum Lüften heraushingen, sein Päckchen Zigaretten. Das war lange her, aber jetzt wünschte ich, es gäbe den Service der misstrauischen Merzenichs noch, denn zu Güldenring fiel mir nichts ein. Ich kannte keinen, bei dem ich die Marke schon mal gesehen hatte. Ich konnte mich an keine Fernsehreklame für Güldenring erinnern, an keine Packung in Großaufnahme. Gül-den-ring, zehn Buchstaben. Kroll hupte, wedelte ungeduldig mit den Händen, rief irgendwas Blödes. Glücksspiel: Ich warf das Zweimarkstück ein, biss mir auf die Unterlippe und zog. 'Milde Sorte?' 'Die sollen sehr gut sein. Und haben auch zehn Buchstaben, genau wie Güldenring.' 'Hast du wieder deine Augenentzündung, Blinder?' Ich beschäftigte mich mit dem Dorn in meinem Daumen. Kroll hatte kein Kleingeld mehr für einen weiteren Versuch, und ich behauptete, auch keins zu haben. Mein Kollege warf seinen schwarzen Hut aus falschem Leder auf den Boden der Fahrerkabine und starrte mich wütend an. Das Radio sang Schön ist es, auf der Welt zu sein. Kroll war anscheinend nicht dieser Meinung, jedenfalls summte er nicht mit. Endlich fuhr er weiter, hörte aber nicht auf zu fluchen und mir böse Blicke zuzuwerfen. Das ging so lange, bis ihm ein VW die Vorfahrt nahm. Ich konnte aufatmen: Kroll hatte einen neuen Feind. 'Käskopp! Scheiß Holländer!' 'Vielleicht ist der gar kein Holländer', sagte ich. 'Nicht alle Niederländer sind Holländer. Nur die im Norden, also im Großraum Amsterdam und in der Provinz Zeeland' 'Du machst, dass ich Migräne kriege!' Kroll bremste abrupt, sprang aus dem Wagen. Auf dem Gehweg lag ein großer Haufen...
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