Beschreibung
Der politische und sehr persönliche Rückblick eines friedlichen Revolutionärs Eine Schlüsselfigur der jüngsten deutschen Geschichte erinnert sich: Joachim Gauck, engagierter Systemgegner in der friedlichen Revolution der DDR und herausragender Protagonist im Prozess der Wiedervereinigung als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.Joachim Gauck verlebte seine Kindheit in einem Dorf an der Ostseeküste. Später studierte er Theologie in Rostock und fand seinen Weg in die Kirche in Mecklenburg. Distanz zum DDR-System prägte seine Tätigkeit von Anfang an. Wie selbstverständlich wurde er Teil einer kritischen Bewegung und schließlich zu einer Symbolfigur im Umbruch von 1989. Nach dem Mauerfall übernahm Gauck politische Verantwortung, er wurde Abgeordneter im ersten freien Parlament der DDR und erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Der Kampf gegen das Vergessen und Verdrängen blieb als Redner und Kommentator sein großes Thema, auch als er nach zehn Jahren aus dem Amt ausschied.Zu seinem 70. Geburtstag hat Joachim Gauck seine Erinnerungen aufgeschrieben. Ihm ist ein gleichermaßen politisches wie emotional berührendes Buch gelungen, in dem er in klaren Bildern die traumatisierende Erfahrung der Unfreiheit und das beglückende Erlebnis der Freiheit nachzeichnet und den schwierigen Übergang von erzwungener Ohnmacht zu einem selbstbestimmten Leben beschreibt.
Autorenportrait
Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, arbeitete dort bis 1989 als Pastor. Er war Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstandes gegen die SED-Diktatur, politisch aktiv als Sprecher des Neuen Forums in seiner Heimatstadt und sodann als Abgeordneter der ersten freien Volkskammer. Von 1990 bis 2000 war er Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen, von 2012 bis 2017 elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Er erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u.a. den Hannah-Arendt-Preis, den Geschwister-Scholl-Preis, den Europäischen Menschenrechtspreis und den Ludwig-Börne-Preis. Seine Autobiographie 'Winter im Sommer - Frühling im Herbst' erschien 2009 im Siedler Verlag.
Leseprobe
"Wo ich her bin." Wenn ich den Sommer besuchen will, habe ich es nicht weit. Auf dem Fischland, ?stlich von Rostock an der mecklenburgischen K?ste, k?hlt er seine Hitze zwischen Ostsee und Bodden. Dort, wo das Land zwischen den beiden Wassern auf gerade einmal f?nfhundert Meter zusammenschrumpft, liegt das Ostseedorf Wustrow. Von hier stammen die ersten Erinnerungsbilder, die meine Seele aufbewahrt, denn hier verbrachte ich die ersten f?nf Jahre meines Lebens: das Gesicht der Mutter ?ber mir, das Haus, der Baum, der Himmel - hell. Das gro? Wasser, die Gro?utter, der Himmel - dunkel. Die kleine Schwester, Kindertr?n, Kindergl?ck. Alles war zum ersten Mal. Aber immer, wenn ich mich erinnere, gibt es ein erstes Bild. Ich bin zw?lf Jahre, besuche Tante Marianne, eine Freundin meiner Mutter. Sie wohnt mit ihren beiden Kindern in einem uralten Fachwerkhaus am Bodden. Im vorderen Bereich der dunklen Diele mit dem Lehmfu?oden sind die St?e, hinten liegen die K?che und die Zimmer. In der Diele streichen Katzen herum, Schwalben fliegen ein und aus, unter dem Geb? haben sie ihre Nester gebaut. Das Haus geh?rt Opa Konow, Tante Mariannes Vater, einem Mecklenburger Urgestein. Sein kleines Holzboot, eine Polt, liegt f?nfzig Schritte entfernt im "Hafen", einer kleinen Ausbuchtung im Schilfg?rtel am Rande des Grundst?cks. In diesem Boot lerne ich rudern und - da man es schnell in ein Segelboot verwandeln kann - auch segeln. Man holt damit Heu von einer Boddenwiese oder von der gegen?berliegenden Kreisstadt das Bindegarn, das f?r die M?aschine gebraucht wird. Opa spricht nat?rlich Plattdeutsch, mit Einheimischen und Fremden gleicherma?n, gelegentlich auch mit dem Wind, wenn der es "tau un tau dull" treibt mit dem kleinen Holzboot - nicht, dass man noch beidrehen und reffen muss! Wenn sein Enkel Burckard und ich "anstellig" sind, kriegen wir ein gutes Wort und sp?r in der Bauernk?che Leckmilch, einen fast k?rnigen Quark. Wahrscheinlich buttert Tante Marianne gleich. Ich entwickle einen regelrechten Hei?unger auf die frische, mit winzigen Wasserteilchen behaftete sattgelbe Butter aus dem Fass, die Tante Marianne am Abend verschwenderisch auf ein St?ck Schwarzbrot schmiert. Wir sind immer hungrig, denn wir sind immer drau?n, bei Wind und Wetter, auf dem Hof, auf den Wiesen und auf dem Wasser. An diesem Tag zieht ein Gewitter auf, was nicht allzu oft geschieht, denn meist, so die Alten, z?gen die Gewitter am Fischland vorbei, wegen der Lage zwischen den Wassern. Aber wenn es kommt, dann m?tig. Mein Freund und ich rennen in die Laube gegen?ber der K?che, wir erschauern, wenn die Blitze den Himmel zerrei?n, und h?ren dem Regen zu, der laut auf das Laubendach trommelt und leise in den weichen Lagen des Rohrdachs gegen?ber versickert. Es ist so dunkel geworden, dass in Tante Mariannes K?che jetzt Licht brennt. Ich sehe sie dort hantieren, die Oberseite der K?chent?r steht offen. Gern w?rde ich ihre Augen sehen - mir war immer, als w?rden ihre Augen ja sagen zum Leben. Sie haben das sicher immer und ?berall getan, aber in diesem Sommer bin ich es, der in den Blick dieser Augen gekommen ist. Ich sp?re: Ich bin einer, der dazugeh?rt. Tante Marianne hat mich geborgen. Jetzt blickt sie auf, sieht zu uns hin?ber in die Laube, sie l?elt und winkt, wahrscheinlich gibt es gleich Abendbrot. Morgen w?rde das Gewitterdunkel weitergezogen sein, Tante Marianne w?rde uns mitnehmen in die Wustrower Kirche. Jeden Mittwoch ist hier Sommerabendfeier, ein Abend bestimmt von der Musik durchreisender K?nstler, vom Klang der Orgel und immer demselben Lied zum Schluss. Ich werde es schnell auswendig kennen: Der Tag nimmt ab. Ach sch?nste Zier, Herr Jesu Christ, bleib du bei mir, es will nun Abend werden. Lass doch dein Licht ausl?schen nicht bei uns allhier auf Erden. W?end wir mit unseren Fahrr?rn am Bodden entlang zur?ckfahren unter unser Dach, summe ich die Melodie vor mich hin. Heute schlafen Burckard und ich im fr?heren K?erstall neben der alten Sch Leseprobe
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