Beschreibung
Jen Gibbs hat es geschafft: Sie hat sich aus einer kärglichen Kindheit in den Blue Ridge Mountains hochgearbeitet und ist nun Lektorin in einem renommierten Verlagshaus in New York. Eines Tages findet sie ein altes Manuskript auf ihrem Schreibtisch. Unweigerlich zieht sie die faszinierende, mysteriöse Liebesgeschichte um Sarra und Randolph, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in den Appalachen begegnen, in ihren Bann. Doch die Suche nach dem anonymen Autor führt Jen ausgerechnet an die Orte, die sie eigentlich zu vergessen versuchte. Eine geheimnisvolle Liebes- und Familiengeschichte auf zwei Zeitebenen.
Autorenportrait
Lisa Wingate arbeitet als Journalistin, Kolumnistin, Rednerin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Texas.
Leseprobe
1 Das ist eine Sternstunde. Und der Ort, an dem ein Zauber Wirklichkeit wird. Dieser Gedanke breitete sich sanft, fast unmerklich in mir aus, so wie der Hintergrund, der das Motiv eines Fotografen erst richtig zur Geltung bringt. Seine schimmernden Ränder erregten meine Aufmerksamkeit und erinnerten mich an einen Rat von Wilda Culp, ohne die ich an einem völlig anderen Ort gelandet wäre. An einem verhängnisvollen Ort. Es ist wirklich erstaunlich, wie ein einziger Mensch und ein paar Geschichten ein Leben verändern können. Der Trick besteht darin, Jennia Beth Gibbs, die Sternstunden in vollen Zügen zu genießen, so wie sie kommen. Ich hörte ihre Stimme wieder, mit ihrem tiefen, trägen Carolina-Akzent, der die überraschende Melodie einer längst vergangenen Zeit in sich trug. Es gibt nichts Traurigeres im Leben, als diesen Momenten nur hinterherzusehen. Sternstunden sind immer vergänglich. Mein erster Nachmittag in der Kampfarena des Verlages "Vida House" war eine solche Sternstunde. Das fühlte ich, das wusste ich, noch bevor George Vida durch die Tür schritt und seinen Platz an der Stirnseite des Tisches einnahm, um die wöchentliche Teamsitzung zu beginnen. Meine erste Sitzung bei Vida House. Sie würde anders verlaufen als jede andere Sitzung, an der ich in den letzten zehn Jahren in einem halben Dutzend Verlagen in verschiedenen anderen Wolkenkratzergebäuden in Manhattan teilgenommen hatte. Hier lag ein Zauber in der Luft. George Vida stützte die Hände auf den Tisch, bevor er sich setzte und seinen Blick mit der Aufmerksamkeit einer alten, faltigen Ziege auf der Suche nach etwas zu Knabbern durch den Raum schweifen ließ. Sein Blick blieb einen Moment an einem hohen Berg aus alten Umschlägen, Manuskriptschachteln und losen Blättern, die mit Gummi zusammengehalten waren, auf der anderen Seite des Konferenzraums hängen. Dieser sonderbare Papierberg trug wie so viele andere Dinge zum Ruhm von Vida House bei. Er war eine Besonderheit, die ich bis zu diesem Tag nur vom Hörensagen gekannt hatte. Er war einer der wenigen noch verbliebenen Papierberge in ganz New York City, vielleicht sogar in der gesamten Verlagswelt. Im Zeitalter der E-Mail-Kommunikation waren Archive mit bedrucktem Papier heimlich, still und leise ausgestorben wie die Dinosaurier. Digitale Archive waren platzsparender, leichter zu verwalten, effizienter. Unsichtbar. Auf ihnen lagerte sich kein Staub ab wie auf den langsam vergilbenden Fragmenten von George Vidas Reliquiensammlung. Und hier sehen Sie "Slush Mountain", einen Berg mit alten, unverlangt eingesandten Manuskripten, hatte der junge Praktikant erklärt, der mich als neue Mitarbeiterin durch das Gebäude geführt und mit einer theatralischen Handbewegung auf den Stapel gedeutet hatte. Er ist schon so etwas wie eine Touristenattraktion. Dann hatte er sich vertraulich zu mir gebeugt. Aber ich rate Ihnen, dass Sie das nie vor dem Chef erwähnen. George Vida liebt diesen Papierberg. Niemand - wirklich niemand! - rührt ihn an. Niemand fragt, warum der Berg im Konferenzraum so viel Platz einnehmen darf. Wir tun alle einfach so, als wäre er nicht da. Wie der berühmte Elefant im Raum - das Offensichtliche, was niemand anzusprechen wagt. Slush Mountain war wirklich ein eindrucksvoller Elefant. Wenn man bedenkt, dass Immobilien in Manhattan sehr kostbar sind, nahm er erstaunlich viel Raum ein. Seine Spitze reichte fast bis zur antiken Metalldecke hinauf. Von dort aus breitete sich die Sammlung langsam nach außen und unten aus und verbannte den Konferenztisch und die Stühle auf die restlichen drei Viertel des Raumes. Diese Information des Praktikanten war mir nicht neu. George Vida (mir war aufgefallen, dass jeder, der hier von ihm sprach, beide Namen benutzte und nie nur den Vornamen oder nur den Nachnamen nannte) behielt seinen Berg, um die Jüngeren, die in eine digitale Welt hineingeboren worden waren, an zwei Dinge zu erinnern: erstens, dass nicht rücksendungspflichtige Manuskripte deshalb nicht rücksendu