Ich, Jean Gabin

Roman - Das rebellische junge Mädchen und die anarchische Leinwandlegende - PERLEN: Italienische Schriftstellerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts, PERLEN 4

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783737412377
Sprache: Deutsch
Umfang: 168 S.
Format (T/L/B): 1.8 x 20.5 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Kann sich ein kleines Mädchen mit Jean Gabin identifizieren? Ja, wenn dieses Kind Goliarda Sapienza heißt. Die anarchistische Ikone des französischen Kinos wird zum Alter Ego der jungen Goliarda, die seine Filme in- und auswendig kennt. Rebellisch, passioniert, mit einer imaginären Zigarette im Mundwinkel, streift Goliarda durch die Civita von Catania wie Jean Gabin durch die Kasbah von Algier. Arm in Arm mit Jean tritt sie in die vor Leben sprudelnden, verrufenen, lavaschwarzen Gassen ihres Viertels, führt Gespräche mit philosophierenden Prostituierten, Puppenspielern, Jasminhändlern und den steinernen Monstren unter den Balkonen. Jean, der Kavalier, begleitet sie nach Hause, zu ihrer anarchischen Familie: Goliardas Vater, der Anwalt, 'von den Armen geliebt, von den Faschisten gehasst, aber von allen gleichermaßen respektiert und gefürchtet'. Ihre prinzipientreue Mutter, die Kämpferin, unter deren Ägide sich das Haus der Sapienzas in einen Ort des Widerstands und der Gegenkultur verwandelt. Und ihre erwachsenen Brüder und Schwestern, alle grundverschieden, aber fest entschlossen, ihre Träume zu verwirklichen. Ich, Jean Gabin erzählt all das über ein paar Tage hinweg. Das mitreißende Buch ist Teil dessen, was Goliarda Sapienza als 'Autobiografie der Widersprüche' bezeichnete. Der beherzte, freie Traum vom Sein, den die kleine Goliarda mit ihrem Jean teilt, veranlasst sie schließlich zu der ersten echten Stellungnahme ihres jungen Lebens gegenüber den Normen der Gesellschaft: 'Keinen Profit aus der Reduzierung dieses Traums auf eine verkäufliche kleine Geschichte schlagen, keine Kompromisse eingehen.' Der Roman erscheint in der Reihe PERLEN. Bedeutende italienische Schriftstellerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts.

Autorenportrait

GOLIARDA SAPIENZA wurde 1924 in Catania als jüngste Tochter der Gewerkschafterin Maria Giudice und des Rechtsanwalts Giuseppe Sapienza in eine sozialistisch revolutionäre Familie geboren. Mit sechzehn Jahren ging sie zum Schauspielstudium an die Accademia di Arte Drammatica nach Rom. Im Zweiten Weltkrieg schloss sie sich der Resistenza an. In den 1950er und 1960er Jahren wurde sie als Theaterschauspielerin gefeiert und spielte in Filmen u. a. von Luchino Visconti und Citto Maselli. Parallel begann sie zu schreiben. 1967 erschien ihr autobiografischer Roman Lettera aperta (Offener Brief ). Zu Lebzeiten konnte sie drei weitere Bücher veröffentlichen. Ihr Hauptwerk Larte della gioia (Die Kunst der Freude) erschien wie die meisten ihrer Romane und Schriften, darunter auch Io, Jean Gabin (Ich, Jean Gabin), posthum, herausgegeben von Angelo Pellegrino. Goliarda Sapienza, heute eine der bedeutendsten italienischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts, starb 1996 in Gaeta. KLAUDIA RUSCHKOWSKI ist Autorin, Dramaturgin, Herausgeberin und literarische Übersetzerin aus dem Italienischen und Englischen. Sie beschäftigt sich mit dem Werk von Etel Adnan, Elsa Morante, Goliarda Sapienza und Margaret Fuller, entdeckt Autorinnen (wieder) und konzipiert Literatur- und Kunstprojekte. Mehrere ihrer Hörspiele über Künstlerpersönlichkeiten wurden ausgezeichnet. Im S. Marix Verlag erschien ihr Roman Rot, sagte er. Ebenfalls bei S. Marix gibt sie die Reihe PERLEN - Bedeutende italienische Autorinnen des 20. und 21. Jahrhunderts heraus. Sie lebt bei Köln und bei Perugia.

Leseprobe

'Der Anwalt verlangt Ihre Anwesenheit in seiner Kanzlei, soforrt!' Mit zwei r. Darüber nachsinnend, wie hart es war, in der Kasbah zu leben, wo man in null Komma nichts über alles Bescheid wusste, immer von hundert Augen beobachtet, die einem jede Privatsphäre und die Möglichkeit entzogen, Geheimnisse zu haben, das erste Attribut, um wirklich ein Mann zu sein, durchquerte ich die beiden riesigen Räume, die immer von zerlumpten, aber würdevoll herausgeputzten Klienten überquollen, die aussahen, als würden sie zu einer Beerdigung erscheinen, und betrat den endlosen, leeren, ringsherum nur mit Vitrinen voll herrlich in der Sonne leuchtender Bücher verkleideten Saal die Bücher waren absichtsvoll hinter dem Glas platziert, um den armen Klienten zu verunsichern - das war mir seit langem klar -, mir, Gabin, konnte man aber nicht damit kommen! Doch der Saal zog sich hin, die Beine zitterten ein wenig und ich machte eine kleine Pause, um von der Großstadt zu träumen, der unüberschaubaren Großstadt, wo es die Möglichkeit gab, sich zu verstecken, anonym zu bleiben, ein Geheimnis zu haben Würde es mir je gelingen, aus der Kasbah herauszukommen und nach Paris zurückzukehren? Auch ich hatte ein imaginäres Metro-Ticket meines imaginären Paris an der gekalkten Wand neben dem Kopfkissen meines Lagers befestigt, hoch oben in meiner Kammer unter den Dächern, nah beim Himmel. Ich musste nur den Kopf auf dem Kissen drehen, um es zu betrachten, das allein für mich sichtbare Stückchen Karton, und zu träumen. 'Aber warum, Goliarda, willst du aus deinem schönen Zimmer in dieses Mauseloch unter dem Dach ziehen, das ist nur eine Bodenkammer. Ein Backofen im Sommer und ein Eisschrank im Winter! Und außerdem muss man erstmal das ganze Durcheinander dort beseitigen.' Die sanfte Stimme meiner Schwester Licia leistete Widerstand. Sie fürchtete immer um meine Gesundheit, wenn auch sehr taktvoll. Dieser Takt musste - außer dass die Glückliche die Großstadt kennengelernt hatte - von ihrem hohen Wuchs und der gewölbten, ungetrübten, in meinen Augen fürstlichen Stirn herrühren (etwas zu rechteckig, säuselte ihre Schwester Musetta neidisch). Aber ich war standhaft geblieben, ich war ihrem Charme nicht erlegen und aus eigener Kraft - 'ich mache den Umzug allein, keine Sorge' - verließ ich - endlich! - das Zimmer voller Stuck und Nippes in der ersten (Nobel) Etage, das mir für einen verfolgten jungen Mann, und nichts anderes war ich jetzt, durch und durch abstoßend und bourgeois vorkam. Aber das war einmal, jetzt musste ich dem Anwalt gegenübertreten, meinem Vater, von dem zu sprechen sich nicht lohnt, weil ihn jeder hier oder unten in unserem Viertel, der Civita, kennt: mein Vater, geliebt von den Armen und gehasst von den Faschisten, aber von allen respektiert und gefürchtet. 'Also, Kleines, wie kommt es, dass man nach links und rechts um sich schlägt? Weißt du, dass Concettas Mutter beteuert, sie habe sich den Knöchel verrenkt?' - und so weiter und so fort. Und dann: 'Warum hast du das getan?' Sagt ihr mir, ob meine Antwort anders hätte ausfallen können: 'Jean Gabin hätte dasselbe getan.'

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