Beschreibung
Wir wissen heute, dass die älteren Jahrgänge als Kriegskinder oder -teilnehmer durch den Zweiten Weltkrieg geprägt wurden und dass diese Erfahrungen gerade im Alter wieder hochkommen. Unbestreitbar ist, dass diese Generation typische Verhaltensweisen entwickelt hat, die zwar in der Kriegs- und Nachkriegszeit vorteilhaft waren ('Was uns nicht umbringt, macht uns stärker', 'Hart wie Krupp-Stahl'). Im Alter erweisen sie sich jedoch als problematisch, etwa dann, wenn die Älteren ihre eigene Fürsorge vernachlässigen, körperliche Belastungen ignorieren und Krankheiten nicht auskurieren. Dadurch, dass vergangene Erfahrungen in beratenden und therapeutischen Gesprächen berücksichtigt werden, kann Hilfe geleistet, Entlastung gegeben und Stabilität bewirkt werden. Der Psychoanalytiker und Alternsforscher Radebold zeigt aber auch, was die Betroffenen selbst dazu beitragen können.
Autorenportrait
Hartmut Radebold, geboren 1935, Univ. Prof. em., Dr. med., war Psychiater und Psychoanalytiker und Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie der Universität Kassel. Er gilt als 'Nestor der deutschsprachigen Psychotherapie Älterer' (PSYCHE) und befasste sich mit der Entwicklung und dem Befinden der Kriegskinder. 2009 erhielt er für seine Forschungen das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Im September 2021 ist er in Kassel verstorben.
Leseprobe
Anstelle eines Vorworts - Ein Briefwechsel Am 2. Juli 2004 erschien im Deutschen Ärzteblatt mein Artikel '"Kriegskinder" im Alter. Bei Diagnose historisch denken'. Darauf erreichten mich etwa 50 Zuschriften, darunter die folgende: 7. 7. 2004 'Als ich vergangenen Samstag mit wachsender Beklemmung und Ergriffenheit Ihren Artikel gelesen habe, da hat das einen regelrechten Dammbruch bei mir ausgelöst: Ein Weinkrampf mit furchtbarem Schmerz, Hilflosigkeit und Ratlosigkeit (Warum ? ), kurz, schrecklich! Gottseidank habe ich eine verständige Frau (Ärztin, deswegen das Ärzteblatt), die mich zu trösten versuchte. Da sitzt also nun ein 63-jähriger (geboren kurz vor dem Untergang der Bismarck 1941), sonst gesunder, berufstätiger Mann in leitender Funktion im Sessel und heult, nach Luft ringend, Rotz und Wasser, und das Schlimmste ist: er weiß nicht, warum. Es gibt da nämlich kein singuläres Datum des Schreckens, nein, aber dennoch kommt da unglaublich soviel Schmerz plötzlich an die Oberfläche, drängt mit Macht heraus. Schon seit einigen Monaten habe ich festgestellt, dass mir bei einer auch nur beiläufigen Erwähnung irgendeiner Jahreszahl, die in meine Kindheit fällt, unweigerlich die Tränen kommen (vielleicht auch, weil sie jetzt - nach dem Tode meiner 90-jährigen Mutter letzten Oktober - ungestraft kommen dürfen? Wer weiß? Weinen war mir nämlich von früh an verboten, war weichlich und unmännlich, und welcher Junge will schon unmännlich sein.) Es war mir, als hätte sich ein See an Tränen aufgestaut, seit Jahrzehnten, von dem ich nichts geahnt habe und der sich jetzt einfach, beim Lesen Ihrer Zeilen, Bahn gebrochen hat. Ich war auch so erstaunt, dass ich nicht ein allmählich senil und sentimental werdender Einzelner bin, sondern dass es offensichtlich auch noch vielen Anderen meines Alters so gehen muss, sonst hätte der Herausgeber dieses Thema ja nicht auf die Titelseite genommen. Und ferner war ich erstaunt, als ich die Passage Vernachlässigung der Fürsorge für den eigenen Körper: Vorsorgeuntersuchungen werden nicht konsequent wahrgenommen gelesen habe: Ich war noch nie im Leben bei einer Vorsorgeuntersuchung! Passt genau ins Bild, nicht wahr? Nun, nach 5 Tagen, geht es mir wieder besser; ich war danach zunächst sehr erschöpft und komme mir vor, wie sich wohl ein Rekonvaleszent in Bad Wörishofen fühlen mag, der langsam über die Kieswege geht, noch etwas unsicher, aber die Heilung zu spüren vermeint. Wie es weiter gehen soll, weiß ich nicht. Vielleicht war der Weinkrampf erst der Anfang, noch traue ich mich nicht recht wieder ran. Aber es ist sicher noch lange nicht alles raus. Ich wäre Ihnen sehr verbunden für einen kleinen Hinweis, ob und wie ich diese eigenartige unsichtbare Last vor meinem Tode noch vermindern oder gar loswerden kann.' [.] 11. Kapitel Selbsthilfe für Betroffene Wie kann ich mit meiner Vergangenheit als 'Kriegskind' zurechtkommen? Wie kann ich mir selbst helfen? Seit dieses Buch erschienen ist, werden mir solche Fragen von Betroffenen immer wieder gestellt, in vielen Briefen wie auch auf Vorträgen zum Thema; sie werden ständig an Fachleute herangetragen. Wenn man mir diese Fragen stellt, erinnere ich mich nur zu gut an meine eigenen mühevollen, schmerzlichen und mich lange Zeit bedrückenden Bemühungen, Zugang zu meiner eigenen Geschichte als 'Kriegskind' zu finden 1, 2. Die damalige Lebenssituation betroffener Kinder und Jugendlicher war von einer spezifischen Botschaft und spezifischen Erfahrungen geprägt. Die Botschaft lautete: Komme allein mit deinen schrecklichen Erinnerungen, deinem Kummer, deiner Angst zurecht und funktioniere. Die spezifischen Erfahrungen umfassen: Man kann scheinbar wirklich allein mit allem fertig werden; Reden über Gefühle bringt nichts - besser schweigt man; schließlich ist man stolz, allein zurechtgekommen zu sein. Außerdem weiß man als Angehöriger der betroffenen Jahrgänge bis heute eher selten über die Möglichkeiten einer professionellen psychischen Hilfestellung Bescheid. Ihre mögliche Inanspruchnahme passt auch nicht zum Selbstbild der meisten Männer. Um zu begreifen, warum es einem während des Alterns jetzt seelisch schlechter oder sogar deutlich schlecht geht, bedarf es einer biografischen Reise (s. auch S. 135-139). Diese zunächst innere Reise führt zurück zu den beängstigenden, beunruhigenden, kummervollen, bedrückenden, aber auch zu den sehnsüchtigen, fröhlichen und friedvollen Kindheitserinnerungen; auf dieser inneren Reise begegnet man zwangsläufig seinen damit verbundenen, lange Zeit abgewehrten bzw. abgespaltenen Gefühlen, die sich möglicherweise schon früher bemerkbar machten, jetzt aber immer stärker bis in die Träume hinein andrängen; die innere Reise kann dann auch zu einer (erstmaligen?) realen Reise zu den verloren gegangenen oder verlassenen Orten der Kindheit und Jugendzeit führen, an denen man aufwuchs, Schreckliches und möglicherweise auch Schönes erlebte; schließlich kann diese reale Reise auch zu den in der Ferne liegenden Orten führen, wo die gefallenen Väter begraben sind oder wo ihre Gräber vermutet werden. Erinnern wir uns jetzt bewusst, gezielt und systematischer, so werden unsere oft nur bruchstückhaft vorhandenen Erinnerungen umfassender und sie verknüpfen sich stärker miteinander; die zusätzlichen familiären Berichte verdeutlichen wichtige Zusammenhänge und neue Sichtweisen. Genauere Datierungen und örtliche Zuordnungen (manchmal braucht man eine Landkarte) werden möglich. Allmählich kann man auch die dazugehörigen Gefühle besser zulassen. Schritt für Schritt lässt sich das Erlebte mit Worten beschreiben und zu einem zusammenhängenden Bericht verdichten. Dieser (vorläufig nur innerlich vorhandene) Bericht verdeutlicht auch Lücken, (noch) fehlende Kenntnisse oder auch Widersprüche. Manchmal lassen sich diese durch weiteres Nachforschen, mit Hilfe von Nachfragen in der Familie und/oder der Verwandtschaft wie auch mit Hilfe von Dokumenten, Briefen oder Büchern füllen. Je vollständiger ein solcher Bericht erscheint, desto unweigerlicher stellen sich weitere Fragen: Stimmen meine Erinnerungen überhaupt? Kann es sich wirklich so abgespielt haben, wo doch die Familienaufzeichnungen und die Erinnerungen meiner Geschwister anders lauten? Stimmen die Zeiträume oder war es damals in Wirklichkeit länger oder kürzer? Handelt es sich wirklich um eigene Erinnerungen oder 'erinnere' ich mich aufgrund familiärer Erzählungen ? 3 Bei unseren Bemühungen dürfen wir uns aber nicht in die Falle versuchter 'objektiver Geschichtsschreibung' begeben. Unser innerer Bericht verdeutlicht eine individuelle, subjektive Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte. Er wurde durch familiäre Erzählungen ergänzt, erweitert und beeinflusst. Dazu unterliegen unsere damaligen Erfahrungen einer ständigen und lebenslangen Bearbeitung 4, d. h. bestimmte Anteile wurden in vielfältiger Weise (durch Verleugnung, Bagatellisierung, Verkehrung ins Gegenteil) so verändert, dass sie für uns insgesamt erträglicher wurden, insbesondere im Falle für uns peinlicher, beschämender oder konfliktträchtiger Situationen. Wir können uns aber darauf verlassen, dass die erlebten Fakten 5 zutreffen, beispielsweise die Erinnerungen an Bombenangriffe, Flucht, Vertreibung, Evakuierung, Kinderlandverschickung, Verluste von Personen, Hunger, Unterernährung, katastrophale Lebensverhältnisse und Gewalterfahrungen. Eher besteht die Gefahr, dass wir schreckliche Erfahrungen so vollständig verdrängt haben, dass sie aus unserem Gedächtnis nicht mehr bewusst abrufbar sind. Zu den wieder belebten, oft auch zum ersten Mal zugelassenen Gefühlen gehören häufig zunächst solche von Trauer und Sehnsucht. Sie weisen auf einen spätestens jetzt notwendig werdenden - möglicherweise auch schon vorher begonnenen - Trauerprozess hin. Es ist Trauer über das, was man verloren hat (Menschen, Lebensumstände); es sind Sehnsüchte nach Schutz, Sicherheit, Geborgenheit, nach Verwöhnung wie auch nach einer scheinbar sorglos... Leseprobe
Inhalt
Anstelle eines Vorworts - Ein Briefwechsel 1. Müssen wir zeitgeschichtlich denken, wenn wir Älteren professionell begegnen? 2. Was geschah damals noch? Verluste, Gewalterfahrungen, Flucht und Vertreibung Zwischenfrage I: Dürfen wir uns als Deutsche mit diesem Teil unserer Geschichte befassen? 3. Altersjahrgänge der Betroffenen und ihr Erfahrungshorizont Zwischenfrage II: Waren alle betroffen und alle traumatisiert? 4. Wie reagierten die Betroffenen, ihre Familien und die Gesellschaft damals - aktuell und langfristig? 5. Spätfolgen bei über 60-Jährigen und Älteren? Symptomorientierung bei vernachlässigter Ätiologie Zeitgeschichtliche Perspektive: Fehlanzeige Woher stammen unsere Kenntnisse? Folgen: Ichsyntone Verhaltensweisen Folgen: Psychische Störungen Folgen: Persönlichkeitsveränderungen Folgen: Bindungs- und Beziehungsstörungen Folgen: Veränderungen der Identität Folgen: Funktionelle Störungen und körperliche Erkrankungen Folgen: Erscheinungsformen im Zeitablauf Folgen: Trauma-Reaktivierungen und Re-Traumatisierungen Folgen: Nationalsozialistische Erziehung, Traumatisierung und/oder neurotischer Konflikt Notwendige Differenzierung: nach Jahrgangsgruppen und Geschlecht Notwendige Differenzierung: nach Entwicklungsphasen Notwendige Differenzierung: nach Subgruppen Zwischenfrage III: Muss man die alten Geschichten wieder aufwühlen? 6. Welche Erfahrungen wurden an wen weitergegeben? 7. Lebenslang psychisch stabil? Erreichte vorläufige psychische Stabilität Vulnerabilität und Resilienz Psychisch stabil = psychisch gesund? Abnehmende psychische Stabilität im mittleren Erwachsenenalter Lebenslang psychisch stabil? 8. Älterwerden: Entlastung oder Verschlimmerung? Der eigene Körper als letzterVerbündeter Fehlende Kindheit oder Pubertät Fortschreitende Einschränkung der Identität? Lebenslang und für das Altern benachteiligt? Vorhandene und dazu noch brauchbare Modelle für das eigene Altern? Abgewehrte Trauer Gefürchtete erneute Abhängigkeit Prognose Zwischenfrage IV: Müssen wir uns jetzt erneut die Geschichten von »damals« anhören? 9. Zeitgeschichtlich denken und einfühlen 9.1 Zur Psychotherapie über 60-Jähriger - Kenntnis- und Erfahrungsstand 9.2 Spezifische Beziehungskonstellationen 9.3 Aufgabenstellung 9.4 Zugang, Abklärung und Arbeitsauftrag Hinweise und Chiffren Die Frage nach Alter oder Jahrgang Behutsame Neugier Mögliche Schwierigkeiten Akzeptierendes Einfühlen Zwischenschritt: Zeit lassen Zwischenschritt: reflektierend innehalten Zur Diagnose: Systematische Erfassung Zur Diagnose: Differenzialdiagnose funktioneller und psychischer Symptomatik Zur Diagnose: Depression oder Trauer Zur Diagnose: Depression oder Demenz Zur Diagnose: Trauma oder neurotische Störung Arbeitsauftrag 9.5 Begleitende differenzierte Hilfestellung 9.6 ... in der Psychotherapie 9.7 ... in der Beratung 9.8 ... in der allgemeinen ärztlichen Versorgung Hausarzttätigkeit Krankenhaustätigkeit In der Rehabilitation 9.9 ... in der gerontopsychiatrischen Versorgung 9.10 ... in der Pflege. Häusliche Pflege Institutionelle Pflege 9.11 ... in der Seelsorge 9.12 Supervision 10. Warum wissen wir so wenig darüber? Die Frage an die Psychoanalyse Die Frage an die zeitgeschichtliche Forschung »Kriegskinder« = Alterskohorten mit fehlendem Gruppenbewusstsein? 11. Selbsthilfe für Betroffene 12. Holt uns unsere eigene Geschichte wieder ein? 13. Zeitgeschichtlich denken - Aufgabe nur bei Älteren? 14. Nachwort Dank Literatur Anmerkungen
Schlagzeile
Hilfen für Kriegskinder im Alter - Erweiterte Neuausgabe 2009>