Beschreibung
Meinungsvielfalt im Judentum ist sprichwörtlich. Dass sich diese aber in Konfessionen und Parteiungen niederschlägt, ist eine Erscheinung, die erst mit der Emanzipation einsetzte. Denominationen haben sich vor allem in Nordamerika etabliert. In Israel wird um das Verhältnis von Religion und Staat gerungen; dort versucht man, mit Religion oder Traditionselementen Politik zu machen. Meinungen treten nun als Verlautbarungen und Parteiprogramme auf, die miteinander rivalisieren. Ein völlig neues Phänomen ist auch ein vielgestaltiger, innovativer Feminismus. Aber auch die altbewährte Philosophie hat sich zu einem in vielen Farben schillernden Gruppenphänomen entwickelt. Selbst der dezidierte Atheismus und antizionistisches linkes Judentum schöpfen aus dem Traditionsarsenal. So ist das vernichtete europäische Judentum bis in die Gegenwart auf Schritt und Tritt spürbar. Dieser Band bildet den Abschluss der Reihe 'Jüdisches Denken', deren Bände schon heute als Standardwerke gelten.
Autorenportrait
Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er ist Vorsitzender der Ephraim Veitel Stiftung, der ältesten und von ihm seit 2007 wiederbelebten jüdischen Stiftung in Deutschland.
Leseprobe
VORWORT Das Jüdische Denken ist nach fünfzehn Jahren an seinem Ziel, der Gegenwart, angelangt. Die jüngsten hier zu Wort kommenden Denker und Denkerinnen - ja zum ersten Mal auch Frauen - sind unsere Zeitgenossen und prägen das jüdische Denken der Gegenwart. Das heißt allerdings nicht, dass das Thema nun wirklich erschöpft sei. Ganz im Gegenteil! Je näher man an die jüngere und jüngste Zeit herankommt, desto schwerer fällt die Auswahl der aufzunehmenden Personen und Themen, und manche Leserin oder Leser wird das Fehlen des einen oder anderen beklagen. Als Autor ist man sich der Unvollständigkeit einer solchen Arbeit schmerzlich bewusst. Dennoch glaube ich sagen zu können, dass die in den fünf Bänden des Jüdischen Denkens behandelten Themen und Autoren repräsentativ für das jüdische Denken sind. Man kann dies unschwer an den zahlreichen internen Querverweisen, Auf¬nahmen und Zitierungen erkennen, die ein engmaschiges Netz der Bezugnahmen geflochten haben. Bis herein in die jüngsten Texte greifen die Autoren auf Traditionen zurück, die der Leser in den jeweils vorangehenden Bänden des Jüdischen Denkens finden kann. Insgesamt ist ein vielgliedriges Bauwerk entstanden, in dessen Hallen Antworten auf die wichtigsten Fragen zum jüdischen Geistesleben gegeben werden. Die hier vorgestellten jüdischen Bücher sind nicht nur die schlechthin unverzichtbare und reiche Quelle für den Historiker. Sie sind und waren seit Anbeginn Ausdruck der Kraft dieser Jahrtausende alten Kultur. Sie dienten als Hilfe in der Not und der täglichen Begleitung, sie schenkten Erbauung, Freude und Erfrischung, sie gaben Anlass zum Grübeln, zum Forschen und zum Weiterdenken - dieses niedergeschriebene Vermächtnis verbürgte Bestand und Kreativität in der Vergangenheit wie in der Gegenwart und wird es ebenso in der Zukunft tun. Das sollte uns Modernen, denen die Bücher abhanden zu kommen drohen, Zeichen und Mahnung sein, diese Säule jeglicher Zivilisation und intellektuellen Lebens hoch zu halten. Für mich waren die fünfzehn Jahre des Schreibens an diesem Buch eine überaus anregende Reise durch ein reiches und vielfältiges jüdisches Wissen, die stets neue Überraschungen bereithielt, Metamorphosen und wieder längst Vertrautes, Freudiges wie auch zutiefst Bedrückendes, kurz ein Spiegel der ganzen Breite jüdischen Lebens wie es im Nachsinnen und in Worten erschlossen wurde. Und ich kann nur hoffen, dass die Leser, die mir auf diesem Gang folgen, dieselben Erfahrungen machen werden. Wie schnell diese Jahre verflossen sind, wurde mir erst wirklich bewusst angesichts der Tatsache, dass beim Erscheinen des ersten Bandes mein Enkel, Noah Ben, geboren wurde und im hebräischen Jahr 5780, der Auslieferung des letzten, nun auch sein Bruder, Liam David, Bar Mizwa wird - ihm ein herzliches. Ich hoffe nur, dass jeder von den beiden in diesem reichen Angebot seine eigene Gedanken-Nische finden wird. Meine Arbeit an dieser Geschichte des jüdischen Denkens wäre ohne die Hilfe der Bibliothekare und Bibliothekarinnen der UB der Freien Universität Berlin nicht möglich gewesen. Einen bedeutsamen Anteil daran hatten die Damen der Fernleihstelle, die mir alle meine Wünsche, seien sie auch noch so esoterisch gewesen, immer gewissenhaft und schnell erfüllten. Ohne die Arbeit solcher Bibliotheken, die heute ihre Schätze auch über das Internet zugänglich machen, kann keine Kultur und noch weniger die Wissenschaft bestehen - pflegen wir sie! Danken möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich Frau Dr. Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag, die mir im Namen des Verlags nicht nur genügend Zeit, sondern noch mehr, viel Raum zur Verfü¬gung stellte, wohl wissend, dass etwas so Mächtiges sich nicht auf wenige Tage und Seiten komprimieren lässt. Danken will ich auch Frau Julia Flechtner für Ihre stete technische Hilfe bei der Erstellung der Druckmanuskripte. Mein Dank gilt schließlich all jenen Kolleginnen und Kollegen, allen Institutionen, die mich auf diesem langen Weg begleitet haben. Besonders dankbar bin ich, dass ich das häusliche Lektorat wieder in die erfahrenen Hände meiner Frau Elvira legen durfte, wiewohl auch sie im politischen Kampf gegen den sich wieder erhebenden Antisemitismus und dessen wohlfeile, sich moralisch gebende wie geschichtsvergessene 'Israelkritik' wahrlich genug Zeit und Kraft verbraucht. Berlin im Juni 2019 EINFÜHRUNG 1. Einheit und Disparatheit - in Geschichte und Gegenwart Das herausragende Merkmal der jüdischen Gegenwart ist - außer den traumatischen und grundstürzenden Veränderungen durch die Schoah und die Gründung eines jüdischen Staates im alten Heimatland, denen der vierte Band des Jüdischen Denkens gewidmet war - die Zersplitterung und das allseitige Ringen um Einheit. Natürlich hat es in der langen Geschichte des jüdischen Denkens, welche dieses Buch abgeschritten hat, immer Meinungsverschiedenheiten und auch Parteiungen gegeben, die sich heftig bekämpften. Man denke an die innerbiblischen Auseinandersetzungen zwischen Thron und Prophetie, das Ringen zwischen Polytheismus und dem Glauben an nur einen Gott, Elija auf dem Karmel und die Baals-Priester, die sozialen Auseinandersetzungen, von denen die Prophetenbücher berichten. Nach dem babylonischen Exil regte sich ein neues Laienelement, die Schriftgelehrten, später Rabbinen genannt, die im Laufe der Zeit des Zweiten Tempels in Konkurrenz zur Priesterschaft traten und diese nach der Zerstörung im Jahre siebzig der Zeitrechnung völlig entmachtete und ihr nur noch eine symbolische Rolle und eine Reihe von Standesbeschränkungen übrigließ. Es war die Zeit der Hellenisierung und der Aufspaltung in viele Richtungen, die Sadduzäer, die Pharisäer, die Essener oder Qumran-Leute und schließlich die Zeloten. All dies beförderte die schon in der Makkabäerzeit aufgetretene Spaltung zwischen den Hasidim, Sadduzäern, Qumran-Frommen und Hellenisten - Letztere insbesondere in der Diaspora. Diese Epoche der Zerklüftung endete mit der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Wiedereinsammlung unter den Rabbinen. Diese Epoche kreierte ihre neuen, der Zeit angemessenen Wertvorstellungen und Weltanschauungen, die von den biblischen erheblich abwichen. Dies war die das Judentum bis heute prägende rabbinische Zeit, in deren Mitte neben der Synagoge das Lehrhaus mit seiner reichen literarischen Produktion florierte, die aber über aller Kontroverse, der 'Auseinandersetzungen um des Himmels Willen' zwischen einzelnen Gelehrten und ganzen Schulen, Hillel und Schammaj, den kollektiven Rahmen der beiden Talmudim und der zahlreichen Midraschim spannte, um die divergierenden Kräfte zusammenzuhalten. Im Mittelalter hat die voranschreitende Individualisierung und vor allem das Hereindringen der griechisch-arabischen Philosophie auch diese Klammer zerbrochen und zu einer Vielzahl individueller theologisch-philosophischer und halachischer Entwürfe geführt, die zwar aus dem rabbinischen Establishment hervorwuchsen, dieses aber alsbald durch ihre eigenen rationalistischen Erkenntnistheorien gefährdeten, dessen überkommene 'Theologie' und Rechtstheorie. Teile der Halacha, die bisher als die feste soziale und rechtliche Klammer dienten, wurden in Frage gestellt. Eine extreme Folge war das Entstehen des Karäertums, welches die rabbinische Tradition rundherum ablehnte und zu einer neuen religiösen-Volksgruppe wurde. Gegen diese Auflösungstendenzen stellten sich Gruppen eines esoterischen Judentums, welche sich in vielfältigen Entwürfen der Gotteslehre, der Kosmologie und vor allem der Neuverortung des halachischen Rechts mit seinen Geboten, diesen rationalistischen Tendenzen entgegenstemmten. Aus der Mitte dieser Kabbalisten kam schließlich auch die Formel, welche das Zerbrechen des Judentums verhinderte, nämlich die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, welche der Quadratur des Kreises glich. Mithilfe dieser Formel wurden die disparaten und sich im Grunde widersprechenden Denkrichtungen als vier für die Religion unabdingbare Denkweisen zur Verpflichtung ...
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