Beschreibung
Was bedeutet es in unserer Gesellschaft, zu dick zu sein? Die Studie rückt erstmals die Erlebnisse, Perspektiven und Wünsche von Jugendlichen ins Zentrum, die diese Erfahrung täglich machen. Sie zeigt, in welch umfassendem Maß das Dicksein die Lebenswelt der Jugendlichen bestimmt, denn sie werden wie eine soziale Klasse behandelt: die Klasse der Dicken. Die Ursache für ihr Dicksein wird in ihnen selbst gesehen, denn für seinen Körper - und damit für gesellschaftlichen Erfolg - gilt man heute als persönlich verantwortlich. Diese Sichtweise auf den Körper hat sich fest in die gesellschaftliche Ordnung eingeschrieben. Ihre Legitimität bestreiten die dickeren Jugendlichen keineswegs, im Gegenteil: Sie haben sie selbst verinnerlicht. Dennoch sähe ihre 'ideale Welt' anders aus. Darin wären alle gleichberechtigt und hätten gleiche Zukunftschancen, unabhängig vom Aussehen: Dicksein darf nicht mehr das Verhältnis in und zu der Gesellschaft bestimmen. Die Studie basiert auf zahlreichen Gruppeninterviews mit Jugendlichen im Alter von 11 bis 12 und 14 bis 16 Jahren sowie mit Eltern dickerer Jugendlicher und mit Therapeuten.
Autorenportrait
Eva Barlösius ist Professorin für Makrosoziologie an der Universität Hannover. Zu ihren Forschungs- und Lehrschwerpunkten gehören die Ungleichheitssoziologie und die Soziologie des Essens, die sie in diesem Buch miteinander verbindet.
Leseprobe
Vorbemerkung "Der Körper ist der Nullpunkt der Welt, der Ort, an dem Wege und Räume sich kreuzen." (Foucault 2005: 33) Eine der wichtigsten soziologischen Einsichten ist, dass Begriffe, Bezeichnungen und Benennungen eine soziale Geschichte in sich tragen. Sie sind keineswegs gesellschaftlich neutral, wie ihr Gebrauch oftmals vorgibt. Zu dieser Einsicht gehört, dass die Fähigkeit, sprachliche Repräsentationen zu schaffen, sie öffentlich zu machen und sogar offiziell werden zu lassen, eine außergewöhnliche Macht darstellt. Schließlich kann sie dazu genutzt werden, einen Common Sense über die soziale Welt herzustellen. Auf diesem Weg wird einer Sichtweise gesellschaftliche Zustimmung und im nächsten Schritt gesellschaftliche Verbindlichkeit verschafft (vgl. Bourdieu 1985: 19; Barlösius 2005). Eine solche Macht hat Bourdieu Benennungs- bzw. Repräsentationsmacht genannt. Beim Thema Dicksein ist dieses soziologische Wissen von herausragender Bedeutung, denn das Wort "Dicksein" wie alle anderen Bezeichnungen dieses Phänomens, und noch mehr die Titulierung von Menschen als "dick", liefern mitnichten nur eine Beschreibung. Sie besitzen abwertenden Charakter und transportieren an die so Bezeichneten die Aufforderung, sich und ihren Körper zu verändern. Dies trifft für die Begriffe "Dicksein" und "dicke Person" zu, weit mehr noch für "Fettsein" und "die Fetten", aber ebenso für scheinbar zurückhaltende Bezeichnungen wie "korpulent", "mollig" oder "rund". Auch in Bezeichnungen, die vorgeben, das Phänomen rein medizinisch zu fassen, wie "übergewichtig" und "Übergewicht" oder "adipös" und "Adipositas", ist eingeschrieben, dass es sich um ein Problem handelt, gegen das etwas zu unternehmen sei. Diese Worte geben vor, das Phänomen zu objektivieren, indem sie Dicksein mittels des Körpergewichts und -umfangs physikalisch erfassen. Eine solche Betrachtungsweise sagt aber nichts darüber aus, wie Menschen erfahren, dass sie gesellschaftlich als zu dick gelten, und wie mit Dicksein gesellschaftlich umgegangen wird. Dies spricht gegen einen soziologischen Gebrauch der beiden Begriffspaare. An ihm ist weiterhin auszusetzen, dass die medizinischen Bezeichnungen mit der größten Repräsentationsmacht ausgestattet sind und das Phänomen dementsprechend erheblich mitgestalten. Dies zeigt sich besonders darin, dass sie es auf die gleiche Weise repräsentieren, wie darauf gesellschaftlich reagiert wird, nämlich mit der Feststellung von Therapiebedürftigkeit. Damit verschaffen sie sich ihre eigene Legitimation. Würde die Soziologie die medizinisch legitimierten Begriffe übernehmen, dann würde sie sich dieser Macht bedienen, während ihre originäre Aufgabe doch darin besteht, den gesellschaftlichen Gebrauch von Begriffen, Bezeichnungen und Benennungen zu analysieren. Nimmt die Soziologie diese Aufgabe an, kommt sie nicht umhin, darüber Rechenschaft abzulegen, welche Worte und Bezeichnungen sie gebraucht. Im Jahr 2012 wurde in den USA die Zeitschrift Fat Studies gegründet. In Anlehnung an die Gender- und Race-Studies hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die dominante gesellschaftliche und politische Sprechweise über Dicksein zu kritisieren. Im Editorial wird erläutert, warum die Worte "fat" und "fatness" verwendet und sogar für den Titel der Zeitschrift gewählt wurden (Rothblum 2012). Die "National Association to Advance Fat Acceptance" und andere gesellschaftliche Gruppierungen, die sich zusammengeschlossen haben, um gegen die Ausgrenzung und Stigmatisierung dickerer Menschen zu kämpfen, hätten sich bewusst für die Bezeichnung "fat" entschieden. Analog zu den sozialen Bewegungen für eine gesellschaftliche Anerkennung und Gleichberechtigung von Homosexualität, die die ursprüngliche Beschimpfung "schwul" positiv umgedeutet haben, sei es das Ziel der Zeitschrift, für eine positive Besetzung des Begriffs "fat" zu streiten. Mit Rückgriff auf Norbert Elias kann diese Absicht als Strategie der "Gegenstigmatisierung" verstanden werden (Elias/Scotson 1992). Die Kennzeichnungen "übergewichtig", "untergewichtig" und "normalgewichtig" lehnen die Fat Activists ab, weil hiermit ein körperliches Ideal gesetzt wird: das Normalgewicht. Im Gegensatz dazu streiten sie für die gesellschaftliche Anerkennung und Gleichberechtigung einer großen Varianz von Körpergewichten und -umfängen. Für dieses Buch ist daraus zu lernen, jene Worte und Titulierungen zu verwenden, die Personen, die sich gesellschaftlich als zu dick erfahren, selber gebrauchen, wenn sie über sich und ihren Körper sprechen. Das empirische Material für die vorliegende Studie besteht im Wesentlichen aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen, die sich selbst als zu dick bezeichnen. Die Worte und Begriffe der Jugendlichen sowie ihre Sprechweise über Dicksein werden hier zugrunde gelegt. Es darf angenommen werden, dass die Jugendlichen in ihrem Sprachgebrauch, insbesondere dann, wenn sie von ihren Erfahrungen und Erlebnissen erzählen, darauf achten, missachtende und abwertende Ausdrücke zu vermeiden. Für die Soziologie knüpft sich daran die Zuversicht, sich mittels dieses Sprachgebrauchs von den gesellschaftlichen Zuschreibungen, was Dicksein bedeutet und wie damit umzugehen sei, zu distanzieren. Um ihre Körper zu beschreiben, sagen die Jugendlichen "die Dickeren", "dicker werden" oder "etwas dicker". Die dazu antonymen Begriffe gebrauchen sie, um Körper zu kennzeichnen, die nicht dick sind: Diese nennen sie "die Dünneren", die "irgendwie dünner" oder "etwas schmächtiger" sind. Im vorliegenden Text werden die Selbstkennzeichnungen "die Dickeren" und "dick(er) sein" übernommen, weil davon auszugehen ist, dass diese von den dickeren Jugendlichen als am wenigsten abwertend empfunden werden. Die vergleichenden Bezeichnungen verwenden die Jugendlichen, um die Verschiedenheit der Körper zu charakterisieren. Die Worte "dick" und "Dicksein" nutzen sie dagegen, wenn sie über gesellschaftliche Wahrnehmungen und Umgangsformen mit dickeren Menschen sprechen. Sie haben jedoch keine vergleichbaren körperbezogenen Benennungen für die gesellschaftlichen Haltungen und Behandlungsweisen von dünneren Menschen. Dass solche Bezeichnungen in ihrem Sprachgebrauch fehlen, ist kein Zufall: Die Jugendlichen sind damit vertraut, dass die Charakterisierungen "dünner" und "schmächtiger" nicht der üblichen Wortwahl entsprechen, sondern die Bezeichnung "normal" gebräuchlicher ist. So verwenden die dickeren Jugendlichen, um den gesellschaftlichen Umgang mit den "Dünneren" und "Schmächtigeren" zu beschreiben, Bezeichnungen, die aus dem Wortfeld "normal" und "Normalität" stammen. Diesen Sprachgebrauch übernimmt diese Studie ebenfalls, jedoch ist stets daran zu denken, dass es sich bei dem, was als "normal" gilt, was als "Normalität" angesehen wird, um gesellschaftliche Konstruktionen handelt. Dank Zuallererst möchte ich mich bei den Jugendlichen bedanken, die durch ihre Bereitschaft, über ihre Erfahrungen mit dem Dicksein zu berichten, die Studie überhaupt erst möglich gemacht machen. Ohne die Klugheit und Tatkraft der Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter wäre dieses Buchs nicht zustande kommen. Mein Dank geht an Grit Fisser, Alexandra von Garmissen, Axel Philipps und Regine Rehaag. Bedanken möchte ich mich weiterhin bei den Studentinnen und Studenten, die im Sommersemester 2014 die Vorlesung "Dicksein" - eine Rohfassung des Manuskripts - kritisch wie ermunternd begleitet haben. Und wie bei fast allem, was ich schreibe, verdanke ich Udo Borcherts einzigartiger und wunderbarer Kommentierung unendlich viel. 1. Dicksein: Ein Phänomen sozialer Klasse und gesellschaftlicher Ordnung? Der Titel des Kapitels fordert heraus. Weniger weil er ankündigt, Dicksein als soziales Phänomen zu analysieren. Diese Auffassung ist mittlerweile gesellschaftlich weitgehend anerkannt und entspricht größtenteils der sozialen Praxis. Ungewöhnlich ist eher, Dicksein zu sozialer Klasse und gesellschaftlicher Ordnung in Beziehung zu setzen. Immerhin handelt es sich dabei um (die) zwei ...
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