Rechtfertigungsnarrative begegnen uns als erzählende Begründungen für individuelles Verhalten, als Geschichten, aus denen sich eine allgemeine Moral ableiten lässt, oder als Filme mit politischer Botschaft. Sie eignen sich in besonderer Weise, um normative Ordnungen zu legitimieren. Denn sie sind breit vermittelbar, appellieren an Emotionen und umgehen logische Unstimmigkeiten. In diesem Band wird danach gefragt, ob eine erzählende Rechtfertigung den Stellenwert einer argumentativen haben kann und wie weit der Einsatz ästhetischer Mittel legitim ist, um gegenwärtige (Un-)Ordnungen zu rechtfertigen.
Andreas Fahrmeir ist Professor für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des 19. Jahrhunderts an der Universität Frankfurt.
Einleitung
Andreas Fahrmeir
Normative Ordnungen bedürfen der Rechtfertigung. Man kann vielleicht darüber diskutieren, ob diese Aussage immer Gültigkeit besitzt, oder einen Anspruch an eine gerechte Welt formuliert, der hoffentlich eingelöst wird - hoffentlich, aber eben nicht immer. Dennoch scheint die Annahme plausibel, dass selbst Ordnungen, die von einem Einzelnen oder einer kleinen Gruppe durch rohe Gewalt durchgesetzt werden, in einer Weise begründet werden, die über den bloßen Verweis auf eine momentane Stimmungslage hinausgeht - zumal es ohne eine Begründung schwierig sein dürfte, von einer Ordnung zu sprechen, die es erlaubt, systematische Normen zu erkennen. Jedoch ist völlig offen, in welcher Form die Rechtfertigung einer Ordnung geschieht, und anhand welcher Maßstäbe der Erfolg oder Misserfolg dieser Rechtfertigung bewertet wird - ob die Rechtfertigung überhaupt als überzeugend gelten kann, und ob sie als Rechtfertigung einer gerechten Ordnung angesehen wird oder nicht. Moderne Gesellschaften haben eine Präferenz für Rechtfertigungen, welche die Form konsistenter, rationaler Systeme annehmen - etwa Gesetzbücher oder Beweise nach den Regeln der Natur- oder Sozialwissenschaften. Rechtfertigungen, die offen als Geschichten daherkommen, erscheinen vor diesem Hintergrund zumindest auf den ersten Blick suspekt. Appellieren sie nicht durch den Einsatz literarischer oder - allgemeiner gesprochen - ästhetischer Mittel eher an die Emotionen als an den Verstand? Funktionieren sie daher nicht nur für Einzelne, keineswegs aber für alle? Ist es nicht so, dass diejenigen, welche die Technik der Nicht-Argumentation durchschauen, sich von der Rechtfertigung nicht mehr hinters Licht führen lassen? Ist daher nicht bereits der Rückgriff auf ästhetische Tricks ein Hinweis darauf, dass der Rechtfertigende seiner eigenen Geschichte nicht vertraut, da er sie nur narrativ darbieten kann, ohne sie auf die Argumente zu reduzieren?
Dass eine solche Sicht auf die Form, in der normative Ordnungen begründet werden, ihrerseits begrenzt ist, lässt sich einmal historisch, einmal allgemein plausibilisieren. Historisch gesehen lassen sich zwar auch in älteren Epochen Beispiele argumentativer Rechtfertigungen finden; sie treten aber hinter der Fülle exemplarischer Geschichten zurück, die Elemente von Ordnungen durch Beispiele begründen, die in Erzählungen eingebettet sind. Die Realität der Erzählung war - unabhängig davon, ob es sich um erlebte, tradierte oder exemplarisch konstruierte Geschichten handelte - der beste Beleg für ihre Richtigkeit. Allgemein trägt selbst die beste Argumentation allein durch die Tatsache, dass sie als Rede oder als gelesener Text sequentiell rezipiert werden muss, strukturell Elemente des Narrativen in sich, die sehr gut verborgen sein können, aber nie ganz verschwinden - auch ein Gesetzbuch hat einen rhetorischen Aufbau, der seinen Inhalt (mit-)begründet. Allerdings kann, ja muss man diskutieren, ob ein Begriff von Narrativität, der jede Form der Sprache, die sich in der Zeit abspielt, als Erzählung deutet, der Frage angemessen wäre. Die in diesem Band versammelten Beiträge widmen sich der expliziten Erzählung, die offen mit ästhetischen Mitteln arbeitet und entweder in eine argumentative Strategie eingebettet ist oder für sich allein als Argument stehen soll. Im Prinzip diskutieren sie damit das gesamte Spektrum narrativer Rechtfertigungen von der Geschichte über verspätete Züge und verpasste Anschlüsse, die erklären sollen, warum man einen bestimmten Termin verpasst hat, zu Nationalgeschichten, die begründen, warum eine bestimmte Form der Regierung, Verfassung, des Parteiensystems oder des Zusammenspiels zwischen Justiz und Politik für eine Gesellschaft, die sich durch ihre (zumindest in der Imagination) gemeinsam erlebte Geschichte auszeichnet, nicht nur durch kontingente Wendungen historisch geworden, sondern auch alternativlos und daher gerechtfertigt ist. Offenkundig geht es dabei vor allem um die letztere Form von Geschichten, was eine interessante Spannung zur Folge hat: Gerade mit Blick auf Nationalgeschichten lag der historiographische Schwerpunkt der letzten Jahrzehnte auf der Dekonstruktion ihrer narrativen, imaginären, emotionalen Elemente zugunsten einer auf rationale Argumentationsfiguren setzenden Aufklärung. Die Beziehung zwischen der Struktur von Rechtfertigungsnarrativen (die ja ebenso gut kritisch wie affirmativ sein können, aber meist auf eine Begründung der Zustände im hier und jetzt zielen) und der Reichweite der Rechtfertigung, die sie zu bieten vermögen, bleibt einer der interdisziplinär spannendsten Diskussionspunkte des Frankfurter Forschungsverbunds zu normativen Ordnungen.
Die genauere Eingrenzung des Konzepts von Rechtfertigungsnarrativen, das sich für das Frankfurter Exzellenzcluster Herausbildung normativer Ordnungen als produktiv-provokante Idee erwiesen hat, ist der Gegenstand von Rainer Forsts grundsätzlichen Überlegungen, die sowohl empirische Beispiele von Rechtfertigungsnarrativen beschreiben als auch die grundsätzlichen Ansprüche und Möglichkeiten solcher Narrative betonen. Die Beiträge von Michael Hampe und Martin Seel fahren in dieser Perspektive fort, indem sie die Funktion der Narrativität für die Konstruktion von Rechtfertigungen normativer Ordnungen in unterschiedlichen Kontexten untersuchen. Während Hampe die ästhetisch-erkenntnistheoretischen Wirkungen des Staunens über narrative Effekte bei Lichtenberg als Exemplum einer Versöhnung argumentativer und narrativer Wege zur Rechtfertigung schildert, analysiert Seel den Beitrag des argumentativen Formats Spielfilm zur Debatte über die Vereinbarkeit des Irak-Kriegs mit den als dominant angenommenen normativen Ordnungen der westlichen Welt oder der US-amerikanischen Gesellschaft.
Der Beitrag Hans G. Kippenbergs, der die Rolle narrativer religiöser Texte für die Rechtfertigung von Gewalthandeln am Beispiel des Nahen Ostens untersucht, greift diese Perspektive regional und thematisch auf, geht jedoch methodisch andere Wege, indem er ein breites und differenziertes Panorama der Wirkungen solcher Rechtfertigungen entfaltet. Wirkt hier das Vertrauen auf eine historische Erzählung von absolut richtigen und falschen Ansprüchen auf Territorien und Staatlichkeiten als Faktor, der friedliche Interaktionen schwierig macht, scheint die Perspektive auf die gegenwärtige Diplomatie den Blick auf Räume zu öffnen, in denen Erzählungen vermittelnd wirken. Allerdings ergibt sich, dass auch über diese Funktion von Rechtfertigungsnarrativen ebenso wenig Konsens besteht wie über die Annahme, dass ihr Einsatz eher konfliktverschärfend wirken kann. Während der Beitrag Gunter Pleugers zu den normativen Wirkungen diplomatischer Verhandlungen dazu neigt, zwischen (im Kern unplausiblen) Erzählungen und (deutlich stärker plausiblen) Fakten zu differenzieren, betont Nicole Deitelhoffs Kommentar die Notwendigkeit, Sprache als (narratives) Medium jeder Verhandlung stärker in die Analyse aller Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten einzubetten.
Auf ähnliche Spannungen weisen die eng aufeinander bezogenen Beiträge von Bertram Schefold und Keith Tribe hin, die in unterschiedlicher Weise nachvollziehen, wie ökonomische Konzepte wie Vollbeschäftigung oder die Zuweisung eines Werts aus konkreten Interpretationen kausaler Zusammenhänge entstanden, die als Erzählungen über den Verlauf ökonomischer Konjunkturen gedeutet werden können, die wiederum eine bestimmte Form der wirtschaftlichen Ordnung rechtfertigen.
Der abschließende Beitrag, in dem Harri England Erzählungen von Menschenrechten in einer Umbruchsituation in Malawi nachgeht, bietet narrativ beschreibende und die Funktion der Narrationen thematisierende Perspektiven auf den Wandel normativer Ordnungen.
Die Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die auf der zweiten Jahreskonferenz des Frankfurter Exzellenzclusters Herausbildung Normativer Ordnungen am 13. und 14. November 2009 präsentiert und diskutiert wurden. Im Rahmen der Tagung wurde deutlich, dass die Auseinandersetzung darüber, ob eine narrative Rechtfertigung den Stellenwert einer argumentativen Rechtfertigung haben kann, und wie ästhetische Mittel in legitimer Weise eingesetzt werden können, um rechtfertigend zu wirken, keineswegs abgeschlossen ist - weder inner-, noch außerhalb des Clusters. Je nach disziplinärer und individueller Orientierung wurden dazu unterschiedliche Positionen artikuliert, die sich auch in den angedeuteten Spannungen zwischen den Papieren spiegeln. Wir hoffen, dass gerade dieser Austausch unterschiedlicher Positionen den Band besonders interessant machen kann.
Weder die Tagung noch der daraus folgende Band wäre ohne die Hilfe zahlreicher Personen und Institutionen möglich gewesen, denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Es ist nur fair, an erster Stelle die Deutsche Forschungsgemeinschaft zu nennen, welche die Exzellenzinitative mit einem großem Engagement begleitet hat und es immer möglich machte, im Rahmen der notwendigen Ordnung flexible Wege zu beschreiten, was den Debattenkontext des Frankfurter Projekts in entscheidendem Maße befruchtet hat. Die Beiträge von Harri Englund und Keith Tribe wurden von Ciaran Cronin und Jürgen Schröder rasch und ebenso sprachlich wie inhaltlich sensibel ins Deutsche übertragen. Dennis Vogt und Sabrina Weber haben die Manuskripte formal vereinheitlich und sorgfältig gegengelesen. Schließlich sei Peter Siller ganz herzlich gedankt, der sich auch in diesem Kontext durch eine perfekte Administration als die intellektuelle Inspiration für das Cluster erwiesen hat, die mit dem Titel eines Geschäftsführers nur sehr unzureichend beschrieben wird.