Beschreibung
International Labor Studies - Internationale Arbeitsstudien Herausgegeben von Klaus Dörre und Stephan Lessenich
Autorenportrait
Stefan Schmalz ist Akademischer Rat am Institut für Soziologie der Universität Jena. Klaus Dörre ist dort Professor für Arbeits-, Industrie und Wirtschaftssoziologie.
Leseprobe
Einleitung: Comeback der Gewerkschaften? Eine machtsoziologische Forschungsperspektive Klaus Dörre und Stefan Schmalz Oftmals als Dinosaurier des Industriezeitalters totgesagt, stehen die deutschen Gewerkschaften so gut da wie schon lange nicht mehr. Lohnforderungen finden Unterstützung in den Medien. Beim gesetzlichen Mindestlohn war das Agenda-Setting erfolgreich. Einige Einzelgewerkschaften, darunter mit IG Metall und in jüngster Zeit auch mit ver.di die beiden größten, verzeichnen Mitgliederzuwächse und im gewerkschaftsfernen Osten der Republik werden Interessenvertretungen in Betrieben gewählt, die lange Zeit als uneinnehmbare Festungen galten. All dies zeigt: Die Gewerkschaften sind zurück - im Betrieb, in der Tarifarena und auch im politischen Geschäft. Ist diese Tatsache an sich unstrittig, so wird über Ursachen, Reichweite und Nachhaltigkeit der Gewerkschaftserfolge kontrovers diskutiert. In der wissenschaftlichen wie auch in der publizistischen Debatte gilt das erfolgreiche Management der globalen Wirtschaftskrise 2008/09 einem Teil der Interpreten als Indiz für die Bestandsfestigkeit von Mitbestimmung und organisierten Arbeitsbeziehungen. Die Protagonisten dieser Argumentationslinie betrachten eine erneuerte soziale Marktwirtschaft als angemessene Leitidee gewerkschaftlicher Strategiediskussionen (Dullien u.a. 2009; Müller-Jentsch 2011). Zeitdiagnosen, die den Finanzmarktkapitalismus als neue Qualität kapitalistischer Vergesellschaftung analysieren, gelten ihnen als übertrieben und in der Sache verfehlt. Stattdessen setzen sie darauf, dass sich die organisierten Arbeitsbeziehungen in ihrem Kernbestand erhalten und erneuern lassen. Das gewerkschaftliche Krisenmanagement erscheint in dieser Perspektive als angemessene Reaktion, ja, sogar als innovative Praxis, welche die Überlegenheit der sozialen Marktwirtschaft gegenüber stärker marktaffinen Kapitalismusmodellen beweist. Verfechter der Gegenposition bestreiten in der Regel weder die Relevanz von Institutionen noch deren formale Kontinuität. Sie gehen jedoch davon aus, dass die Finanzialisierung (Krippner 2011), die "Landnahme durch den Markt" (Streeck 2013: 16), Gewerkschaften, Mitbestimmung und Tarifsystem so geschwächt hat, dass - häufig noch innerhalb einer formal intakten institutionellen Hülle - ein qualitativ neuer Regulationsmodus der Kapital-Arbeit-Beziehungen entstanden ist. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 war demnach eine Signalkrise für eine langwierige gesellschaftliche Transformation, die auch die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen stellt. Das Beschwören des längst verblassten Ideals einer sozialen Marktwirtschaft kann hierfür allerdings keine zukunftstauglichen Rezepte liefern (Urban 2012a). Organisationslernen jenseits ausgetretener Pfade und Wiederbelebung des "demokratischen Klassenkampfs" (Korpi 1983; Offe 2013: 67-80) sind solchen Interpretationen zufolge Minimalbedingungen, um der Demokratie gegenüber dem Kapitalismus überhaupt wieder Geltung zu verschaffen (Crouch 2013). Die Autorinnen des vorliegenden Bandes nehmen diese Kontroverse auf und bemühen sich auf der Grundlage empirischer Forschungen wie auch eigener konzeptioneller Überlegungen um eine Positionsbestimmung. Dabei greifen sie - teils explizit, teils eher indirekt - auf ein Analyseraster zurück, das in Fachdebatten wie auch in gewerkschaftlichen Diskussionen als Jenaer Machtressourcenansatz diskutiert wird (Gerst u.a. 2011: 142; Dribbusch 2012: 123-143; Schwarz-Kocher 2013). Die noch junge Geschichte dieses Ansatzes geht ursprünglich auf die Initiative eines Gewerkschafters zurück. Angeregt durch die Lektüre umfangreicher wissenschaftlicher Literatur zu Labor Revitalization Studies hatte Hans-Jürgen Urban vor-geschlagen, diese Forschungen systematisch aufzuarbeiten, um sie auf innovative Praktiken der deutschen Gewerkschaften beziehen zu können (vgl. Urban in diesem Band). Ein wichtiges Motiv war der Niedergangsfatalismus, der die sozialwissenschaftliche Debatte in Deutschland auszeichnete. Sofern Gewerkschaften überhaupt noch erforscht wurden, geschah das überwiegend in dem Duktus, Organisationen im Niedergang zu beobachten. Dem sollte ein Forschungsprogramm entgegengesetzt werden, das strategic choice, die Möglichkeit einer strategischen Wahl der Gewerkschaften, und damit auch die Chancen einer Erneuerung betonte. Dieses Anliegen führte zur Gründung des Arbeitskreises Strategic Unionism. 2008 legte die Gruppe mit Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? (Brinkmann u.a. 2008) ihr erstes Arbeitsergebnis vor. Das Buch war ein Literaturbericht, es enthielt aber auch konzeptionelle Überlegungen, sondierte empirische Forschungen zur Erneuerung deutscher Gewerkschaften und markierte Umrisse eines Forschungsprogramms. Mit dem Erscheinen der Studie war die Aufgabe des Arbeitskreises zunächst erfüllt. In seiner ursprünglichen Besetzung hat er nie wieder getagt. Dennoch ist ein Ausschnitt des damaligen Forschungsprogramms inzwischen realisiert. Dazu haben die überwiegend neuen Mitglieder des seit Sommer 2010 wieder kontinuierlich tätigen Arbeitskreises erheblich beigetragen. Zwar hat es die 2008 vorgeschlagenen großen Forschungskooperationen bislang nicht gegeben (Brinkmann u.a. 2008: 152), auf der Ebene der Promotionsförderung, über studentische Qualifizierungsarbeiten und kleinere empirische Projekte konnten aber doch - auch außerhalb des Arbeitskreises - verschiedene Vorhaben umgesetzt werden. Der vorliegende Band bietet einen ersten Überblick über einen Teil der neuen, empirisch fundierten Gewerkschaftsforschung, wie sie mittlerweile nicht nur in Jena wieder Fuß gefasst hat. Vertreten sind Mitglieder des Arbeitskreises, aber auch Wissenschaftler aus anderen nationalen wie internationalen Zusammenhängen, die mit eigenen Beiträgen in die Debatte intervenieren. Alle versammelten Texte beziehen sich, sei es direkt oder eher implizit, auf Kategorien, die im Zentrum der von Brinkmann u.a. (ebd.) formulierten Forschungsheuristik stehen. Nachfolgend erläutern wir (1) noch einmal die Grundidee des Jenaer Machtressourcenansatzes, stellen sodann die flankierenden Konzepte marktgetriebene Landnahme (2) und Erneuerung als transnationales Lernen (3) vor und beschäftigen uns abschließend (4) mit neuen Herausforderungen und Fragen, deren Beantwortung ohne analytischen Blick auf subjektive Orientierungen von Lohnabhängigen schwer möglich ist.