Beschreibung
InhaltsangabeInhalt Einleitung: Dynamik normativer Ordnungen - Ethnologische und historische Perspektiven Andreas Fahrmeir und Annette Imhausen7 Interne Dynamik normativer Ordnung(en) Auf dem Weg zu einer Revolution des Geistes? Jean d'Alembert als Testfall Dagmar Comtesse und Moritz Epple21 Experten und die Umsetzung normativer Ordnungen im Alten Ägypten: Theorie und historisch fassbare Praxis Annette Imhausen49 Bilderhorizonte: Wege zu einer Ikonologie nationaler Rechtfertigungsnarrative Bernhard Jussen79 Was ist Wandel normativer Ordnungen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts? Luise SchornSchütte109 Kontakt und Konflikte normativer Ordnungen Mediationen: Normenwandel und die Macht der Medien im subsaharischen Afrika Mamadou Diawara und Ute Röschenthaler129 Wirtschaftstheorie, Normsetzung und Herrschaft: Freihandel, "Rule of Law" und das Recht des Kanonenboots Andreas Fahrmeir und Verena Steller?165 Kaisertum und Christentum in der Spätantike: Überlegungen zu einer unwahrscheinlichen Synthese Hartmut Leppin197 Kosmopolitische Dynamik im Völkerrecht? Ein Beitrag zur Entwicklung des Völkerrechts und der Stellung der Rechtslehre von Francisco Suárez Matthias Lutz-Bachmann225 Schutzherrschaft revisited: Kolonialismus aus afrikanischer Perspektive Stefanie Michels243 Herausbildungen moderner Geschlechterordnungen in der islamischen Welt Susanne Schröter275 Normative Ordnungen im Konflikt? Die Genese von Staatlichkeit und Administration in Frankreich und Begegnungen in Afrika während der Frühen Neuzeit Benjamin Steiner307 Autorinnen und Autoren341
Autorenportrait
Andreas Fahrmeir ist Professor für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des 19. Jahrhunderts an der Universität Frankfurt. Annette Imhausen ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte der vormodernen Welt an der Universität Frankfurt.
Leseprobe
1842 wurde der britische Karriereoffizier Charles James Napier zum Oberkommandierenden der Streitkräfte der Ostindischen Kompanie ernannt. Mit zwölf Jahren in die Armee eingetreten, zeichnete sich der Offizier durch eine ganze Reihe militärischer Erfolge aus. In Erinnerung geblieben ist er freilich durch markige Sprüche. Der beste, die Meldung der befehlswidrigen Eroberung der Provinz Sindh 1842 mit der Botschaft "peccavi" für "I have Sindh", wurde allerdings in einer Lateinstunde in England erdacht und 1844 von Punch gedruckt. Immerhin soll er als Oberbefehlshaber in Sindh dem Bericht seines Bruders zufolge eine ebenso denkwürdig formulierte Begegnung gehabt haben. Die Praxis, Witwen prominenter Männer mit der Leiche des Mannes auf den Scheiterhaufen zu legen, sei in Sindh ohnehin selten gewesen, und Napier habe sie nicht für einen religiös begründeten Ritus, sondern für eine Form der Geldmacherei durch Hindu priests gehalten und entsprechend untersagt. Mit dem Argument konfrontiert, es gehe um ein zentrales Element der hinduistischen Tradition, also der lokalen normativen Ordnung, habe er den Priestern geantwortet: "Be it so. This burning of widows is your custom; prepare the funeral pile. But my nation has also a custom. When men burn women alive we hang them, and confiscate all their property. My carpenters shall therefore erect gibbets on which to hang all concerned when the widow is consumed. Let us all act according to national customs." Da man es auf eine Machtprobe zwischen den normativen Ordnungen doch nicht ankommen lassen wollte, seien Witwen in Sindh fortan vor dem Scheiterhaufen sicher gewesen. Die Geschichte markiert das Aufeinandertreffen unterschiedlicher normativer Ordnungen, wie es auch gegenwärtig noch zu erleben ist. Ein Beispiel ist der deutsch-schweizerische Konflikt um die Steuerfahnder im April 2012, der in den unterschiedlichen Rechtsordnungen der beiden Länder begründet ist. Beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher normativer Ordnungen geht es nicht nur um Triumph oder Niederlage, sondern mitunter auch um die Herausbildung einer neuen Ordnung, die vor ihrer Etablierung zunächst praktisch und theoretisch umstritten ist - etwa im Umgang mit dem Schwarzgeld der einen und dem Weißgeld der anderen Seite. So konkurrierten im Indien des 19. Jahrhunderts die Logiken des britischen Rechtsstaats, der selbst eine (theoretisch) erwünschte Tötung als Mord qualifizierte und entsprechend ahndete, und einer Vorstellungswelt, die eine schmerzhafte freiwillige Selbstaufgabe als Teil religiöser oder traditioneller Normen wertete. Bei dem einen Fall entsteht der Konflikt um zentrale Normen, aus denen eine neue normative Ordnung hervorgehen soll, innerhalb einer Gesellschaft; im zweiten ergab er sich aus dem räumlichen Transfer einer Ordnung in ein anderes Umfeld durch kommerzielle und militärische Expansion. Die Studien dieses Bandes beschäftigen sich mit der Herausbildung, Etablierung und dem Auseinanderdriften normativer Ordnungen, wobei die Unterscheidung zwischen der internen Dynamik normativer Ordnungen und des Kontakts und der Konflikte unterschiedlicher normativer Ordnungen den Aufbau des Bandes bestimmt. Zeitlich reicht die historisch und ethnologisch inspirierte Analyse normativer Ordnungen von den frühen Hochkulturen Ägyptens bis in die heutige Zeit; geografisch umfasst sie Europa, Afrika, Amerika und Südostasien. Das Forschungsprogramm, dem sich der Band verpflichtet fühlt, entstammt dem Frankfurter Exzellenzcluster Die Herausbildung normativer Ordnungen. Innerhalb dieses Clusters hatte sich das historische und ethnologisch ausgerichtete Forschungsfeld folgende Aufgabe gestellt: "Das Gewordensein normativer Ordnungen macht die historische Analyse zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Clustervorhabens. Sie hilft, den Begriff der Normativität zu differenzieren sowie die Komplexität aktueller Problemkonstellationen zu erfassen und sensibilisiert zugleich für die Pluralität normativer Ordnungen. Systematische und historische Analyse ergänzen sich dabei wechselseitig und zielen so auf komplexe, beide Aspekte umfassende Beschreibungsmodelle, die gleichermaßen methodisch, begrifflich wie empirisch abgesichert sind. Das historische Forschungsfeld des geplanten Clusters widmet sich daher einer diachronen Analyse ausgewählter normativer Ordnungen und ihrer Rechtfertigungsnarrative. Diese werden in ihrer historisch-kulturellen Vielfalt wie in der je spezifischen Form ihrer Etablierung behandelt." Ziel dieses Bandes, der am Ende der ersten Förderphase steht, ist es, nicht (nur) ein Potpourri individueller Beiträge zu liefern, sondern das historische Forschungsfeld des Clusters als Ganzes darzustellen - und somit die erste Synthese eines Teils der Forschungen eines Großprojekts zu unternehmen. Dabei fungieren drei zentrale Begriffe als ein Rahmen: normative Ordnungen, Rechtfertigungsnarrative und Akteursperspektive sollen es ermöglichen, inter- und transkulturell Entwicklungen aus verschiedensten Bereichen zu analysieren und trotz ihrer zu erwartenden Andersartigkeit in einer Art miteinander zu vergleichen, die den Blick auf grundlegende Strukturen eröffnen kann. Der Begriff der normativen Ordnung geht auf den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen zurück, der ihn in seiner Reinen Rechtslehre von 1934 erstmals verwandte. Dort ist "normative Ordnung" ein relativ einfacher Begriff; er bezeichnet das System der geltenden Rechtsnormen, sprich den Inhalt (oder zumindest den systematischen Kern) der Gesetzbücher in ihrer jeweils gültigen Form. Kelsen war einem juristischen Positivismus verpflichtet, der die Summe der formal korrekt zustande gekommenen, gültigen Gesetze als alleinige Grundlage, ja als eigentlichen Inhalt der normativen Ordnung einer Gesellschaft verstand. Die technisierende Beschreibung (Normen waren und sind ansonsten vor allem arbiträre Setzungen allenfalls pragmatisch sinnvoller technischer Standards, die keinen substanziellen Gehalt und keine transzendente Dimension haben) entsprach dieser Position vollauf, und der Versuch einer systematischen, logischen Beschreibung eines Systems Recht ordnet sich in parallele Versuche einer kompletten formalen Systematisierung anderer Wissenschaften, vor allem der Mathematik etwa durch David Hilbert, ein. Entsprechend scharf war die Auseinandersetzung Kelsens bereits vor und im Ersten Weltkrieg mit den soziologischen Positionen etwa Eugen Ehrlichs, die Recht auch als eine empirisch fassbare Gegebenheit mit konkreten, bewertbaren Folgen betrachteten. Kelsens Blick auf das Recht hat, wie von Kritikern seiner Position immer wieder hervorgehoben wird, einen stark obrigkeitsorientierten, staatstragenden Charakter. Wenn das, was der Staat beschließt, der einzige Maßstab für die Bewertung staatlichen Handelns ist, gibt es keine Möglichkeit, Widerstand etwa gegen eine Diktatur zu begründen, sofern diese auf juristisch korrektem Wege zustande gekommen ist. Darauf haben Kritiker Kelsens immer wieder hingewiesen. An der Validität dieses Einwands ändert selbst die Tatsache wenig, dass die Kelsen'sche Position, sowohl aus kontingenten Gründen wie auch aus Überzeugung, in der konkreten politischen Situation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg eine war, die der Weimarer Republik positiv gegenüberstand; das war in der Kelsen-Ehrlich Kontroverse im Ersten Weltkrieg noch kaum absehbar gewesen. Aus der Sicht des historisch-ethnologischen Cluster Forschungsfeldes ist freilich eine andere Frage interessanter. Eine an Kelsen angelehnte Definition von normativer Ordnung hat auf den ersten Blick einen doppelten Vorteil: Sie ist präzise, und sie verweist auf leicht erkennbare und zugleich umgrenzte Quellenbestände. Dem stehen aber gewichtige Nachteile gegenüber. So verkürzt sie die historische Perspektive auf Gesellschaften, die einigermaßen moderne Rechtssysteme besitzen und diese auch schriftlich dokumentieren; zudem würde sie davon ausgehen, dass gesellschaftliche Beziehungen weitgehend, wenn nicht sog...
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Normative Orders Schriften des Exzellenzclusters 'Die Herausbildung normativer Ordnungen' der Universität Frankfurt · Herausgegeben von Rainer Forst und Klaus Günther>