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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593375946
Sprache: Deutsch
Umfang: 298 S.
Format (T/L/B): 1.9 x 20.9 x 14.7 cm
Auflage: 1. Auflage 2004
Einband: Paperback

Beschreibung

Solidarität ist das Grundprinzip des Sozialstaates und eine wichtige und zugleich bedrohte Ressource moderner Gesellschaften. Bedroht ist sie, wenn Bürger sich Solidaritätspflichten entziehen oder Vorteile aus sozialen Rechten genießen, ohne die damit verbundenen solidarischen Verpflichtungen zu teilen. Globalisierung kann diese Probleme zuspitzen. Entnationalisierung führt zur Anonymisierung des Kollektivs, das Anspruch auf solidarische Unterstützung erheben kann. Die Autorinnen und Autoren des Bandes untersuchen die Grundlagen von Solidarität und ihre Bedrohung durch Prozesse der Entnationalisierung und zeigen auf, inwiefern auch zeitgenössische Gesellschaften auf Solidarität angewiesen sind. Mit Beiträgen unter anderem von Helmut Anheier, Johannes Berger, Ays¸e Çaglar, Wolfgang van den Daele, Rainer Döbert, Jürgen Habermas, Franz-Xaver Kaufmann, Herfried Münkler, Claus Offe, Ilona Ostner, Klaus Schlichte, Reinhard Schulze, Steffen Sigmund, Rudolf Stichweh, Christian Tomuschat und Heike Walk.

Autorenportrait

Jens Beckert ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln. Julia Eckert, Dr. phil., arbeitet am MPI für Ethnologie in Halle/S. Martin Kohli ist Prof. für Soziologie an der FU Berlin, Wolfgang Streeck Direktor am MPI für Gesellschaftsforschung in Köln.

Leseprobe

Solidarität ist ein Schlüsselbegriff soziologischen Denkens. Soziale Ordnung kann nach übereinstimmender Auffassung der Klassiker des Fachs - Emile Durkheim, Max Weber, Talcott Parsons - nicht allein auf Macht oder den kollektiv wünschenswerten Konsequenzen individueller Interessenverfolgung basieren, sondern verlangt auch die Bereitschaft zu solidarischem Verzicht zugunsten anderer. In der Tradition der Soziologie wird die soziale Integration von Gesellschaften als abhängig von der Bereitschaft der Gesellschaftsmitglieder betrachtet, füreinander einzustehen. Trotz der funktionalen Vorteile sozialer Differenzierung, der wirtschaftlichen und Freiheit ermöglichenden Vorzüge von Marktbeziehungen und der Bedeutung staatlicher Herrschaftsstrukturen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bleibt soziale Integration immer auch auf Solidarität angewiesen. Solidarität ist eine moralische Kraft, die individuelle Egoismen zügelt. Sie lässt sich als Gegenbegriff zum Trittbrettfahren verstehen (Bayertz 1998: 44). Solidarität ist die Bereitschaft, Opfer für das Wohlergehen der anderen Mitglieder einer Gruppe zu erbringen. Fehlt es einer Gesellschaft an dieser Bereitschaft, so hat insbesondere Emile Durkheim betont, muss mit Anomie, also dem Zerfall der sozialen Ordnung gerechnet werden. Solidarität ist keine universalistische Norm. Verpflichtungen zu solidarischem Handeln entstehen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und beschränken sich auf diese. Darin unterscheiden sich Solidarnormen von universellen Gerechtigkeitsnormen und allgemeinen Normen der Hilfeleistung und Barmherzigkeit. Erkennbar wird der partikulare Charakter solidarischer Verpflichtung schon aus der begrifflichen Herkunft. Brüderlichkeit war der Term der Französischen Revolution, aus dem sich im 19. Jahrhundert das Konzept der Solidarität entwickelte. Darin klingt nach, dass Solidarität in vormodernen Gesellschaften vornehmlich an verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Beziehungen gebunden war, nicht jedoch gegenüber Fremden galt. Basierte die Gruppenbildung zunächst auf dem Prinzip der Blutsverwandtschaft und der lokalen Gemeinschaft, so führten später auch ethnische, kulturelle und politische Gruppenbildungen zur Herausbildung solidarischer Pflichten und Rechte. Grundlage ist jedoch immer das Gefühl der Verbundenheit mit einer spezifischen Gruppe, nicht mit der Menschheit als solcher. Solidarisches Handeln ist demnach nicht "ortlos", sondern endet an sozialen Grenzen der Exklusion. Zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Gruppe besteht ein Verhältnis der "ethischen Asymmetrie" (Kersting 1998: 415). Der Zusammenhang solidarischer Pflichten und Rechte mit politischer Gemeinschaftsbildung scheint Solidarität als Steuerungsprinzip auf den sozialen Nahbereich zu beschränken. David Hume vertrat diese Auffassung, die bis heute weit verbreitet ist: Je kleiner und homogener eine soziale Gruppe, desto eher ist sie in der Lage, Solidaritätsgefühle und solidarische Handlungen zu erzeugen. Solidarität scheint damit, in der Unterscheidung von Ferdinand Tönnies, eher ein Konzept der "Gemeinschaft" als eines der "Gesellschaft" zu sein. Dass Solidarität die engen Grenzen des persönlichen Kontakts überschreiten kann, steht allerdings außer Frage. Dies bezeugen nicht nur die Arbeiterbewegung und die Kirchen. Seit dem 19. Jahrhundert ist insbesondere die Nation die Gruppe, der gegenüber die Einzelnen solidarisch verpflichtet sind. Das Gefühl der Zugehörigkeit als Legitimationsgrundlage für die nationalstaatliche Abgrenzung von Solidaritätspflichten und -rechten beruhte dabei auf der sozial konstruierten Vorstellung gemeinsamer Herkunft, Geschichte, Kultur und Ideale (Bayertz 1998: 23). Die im Konzept des Nationalstaats als Solidargemeinschaft zum Ausdruck kommenden Verpflichtungen gegenüber Fremden lassen Solidarität als spezifisch modernes Konzept erscheinen (Preuß 1998). Doch bleibt eine paradoxe Verknüpfung von Gemeinschaft und Gesellschaft im Solidaritätsbegriff enthalten. Solidarität in der modernen Gesellschaft verbindet persönliche Sympathiegefühle auf der einen Seite mit modernen, unpersönlichen Institutionen auf der anderen. Solidarität verknüpft damit Mechanismen der Sozialintegration mit solchen der Systemintegration (Preuß 1998). Allein auf Systemintegration kann Solidarität nicht fußen, ohne dass Pflichten und Rechte ihre Legitimation einbüßen. Solidarität bedarf der lebensweltlich-kulturellen Verankerung. Die Ausweitung solidarischer Pflichten und Rechte auch gegenüber Fremden bedeutet deshalb auch nicht, dass Solidarität in der modernen Gesellschaft universalistisch würde. Die mit dem Nationalstaat entstandenen Grenzen der Zugehörigkeit beruhen nicht nur auf einer geteilten Geschichte und kultureller Homogenität, sondern insbesondere auch auf der klaren Begrenzung von Solidaritätspflichten auf die Bürger des eigenen Staates, im Unterschied zu anderen Mitmenschen. Die Grenzen, die durch den Bürgerstatus gezogen wurden, schufen beides: eine institutionell-kulturelle und eine quantitative Begrenzung von Anspruchsberechtigungen. Die Beschränkung ethischer Verpflichtungen auf ein abgrenzbares Kollektiv war in den Ordnungsmodellen der Soziologie immer mitgedacht. Für die Klassiker war die integrierende Leistung von Solidarität in modernen Gesellschaften von Anbeginn mit deren nationalstaatlicher Organisation verbunden. Der Nationalstaat zog die Grenzen, innerhalb derer den Staatsbürgern Verpflichtungen zu solidarischem Handeln zugemutet wurden, und umgekehrt trug die räumliche und soziale Begrenzung von Solidaritätspflichten zur Einigung der Nationen und zur Legitimation des Solidarprinzips bei. Nach außen ging es bei den Pflichten der Bürger um die Sicherung des Überlebens der Nation in einem auf Gewalt gegründeten internationalen System mit Hilfe einer allgemeinen Wehrpflicht, die in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts meist parallel zur Gewährung des allgemeinen Wahlrechts eingeführt wurde. Nach innen ging es um die gemeinsame Absicherung der ungleich verteilten Risiken von Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit - eine Entwicklung, die nicht nur durch die Demokratisierung gefördert wurde, sondern sich in vielen Fällen auch an die staatliche Fürsorge für die Veteranen und Hinterbliebenen der nationalen Kriege anlehnen konnte, deren Recht auf Solidarität sich komplementär zu ihrer Pflicht verhielt, ihr Leben für ihr Land aufs Spiel zu setzen ("welfare-warfare state"). Dabei war die Anspruchsbegrenzung gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Leistungen nach außen nicht nur Grundlage der moralischen Legitimation des sich entwickelnden Sozialstaats, sondern auch Voraussetzung seiner Finanzierbarkeit. Was aber geschieht, wenn der Nationalstaat als zentrale Ordnungsstruktur zur Gewährleistung und Beschränkung von Solidaritätsansprüchen seiner Aufgabe der Abgrenzung des zu Solidarität verpflichteten und berechtigten Kollektivs zunehmend weniger nachkommen kann? Wenn Rechte nicht mehr auf diejenigen zu beschränken sind, die für sie auch in die Pflicht genommen werden können, und zugleich die Einforderung von Beiträgen zum Kollektivgut Solidarität durch die Möglichkeit der Abwanderung politisch immer schwieriger durchzusetzen ist, könnte es sich um eine der nachhaltigsten sozialstrukturellen Folgen der Globalisierung handeln. Vermuten ließe sich, dass die seit vielen Jahren diagnostizierte Krise jener Institutionen, die solidarische Verpflichtungen hauptsächlich organisieren - des Sozialstaats und der allgemeinen Wehrpflicht - mit den unter den Begriffen Globalisierung und europäischer Integration diskutierten Prozessen der Entnationalisierung in Verbindung steht. In der Tat scheint es, dass parallel zu den gegenwärtigen Entnationalisierungsprozessen die moralische Legitimation von Solidaritätsverpflichtungen zunehmend schwerer wird und die Verteidigung von Institutionen solidarischen Handelns sich entweder auf Effizienzargumente verlagert oder aber sich in reiner Interessenpolitik ...

Schlagzeile

InhaltsangabeEinleitung Jens Beckert, Julia Eckert, Martin Kohli und Wolfgang Streeck Enzyklopädie der Ideen der Zukunft: Solidarität Herfried Münkler I Grenzen nationalstaatlich organisierter Solidarität Einleitung Wolfgang Streeck Pflichten versus Kosten: Typen und Kontexte solidarischen Handelns Claus Offe Sozialstaatliche Solidarität und Umverteilung im internationalen Wettbewerb FranzXaver Kaufmann II Diesseits des Nationalstaats: Verlust oder Neuerfindung von Solidarität? Einleitung Martin Kohli Familiale Solidarität Ilona Ostner Solidarität durch intermediäre Institutionen: Stiftungen Steffen Sigmund Der Dritte Sektor im Diskurs des Dritten Weges Helmut K. Anheier und Matthias Freise III Transnationale Solidaritätsnetzwerke und die Entstehung einer globalen Zivilgesellschaft Einleitung Julia Eckert und Jens Beckert Die völkerrechtlichen Grundlagen der Zivilgesellschaft: Internationale Abkommen als Garanten internationaler Solidarität? Christian Tomuschat Globale Solidarität und die Rechte des geistigen Eigentums Wolfgang van den Daele und Rainer Döbert Formen politischer Institutionalisierung: NGOs als Hoffnungsträger globaler Demokratie Heike Walk Bewaffnete Gruppen und die moralische Ökonomie der Diaspora Katrin Radtke und Klaus Schlichte Islamische Solidaritätsnetzwerke: Auswege aus den verlorenen Versprechen des modernen Staates Reinhard Schulze IV Braucht soziale Ordnung Solidarität? Einleitung Wolfgang Streeck Solidarität jenseits des Nationalstaats. Notizen zu einer Diskussion Jürgen Habermas Der Zusammenhalt der Weltgesellschaft: Nichtnormative Integrationstheorien in der Soziologie Rudolf Stichweh Expandierende Märkte, schrumpfende Solidarität? Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte Johannes Berger Diskussion V Auswahlbibliographie Stefan Klusemann Danksagung Autorenverzeichnis>