Autorenportrait
Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.
Leseprobe
Inzwischen ist sie weit über die Grenzen hinaus bekannt, jedenfalls in gewissen Kreisen, aber als sie vor siebzehn Jahren anfing, konnte man nicht ahnen, was daraus werden würde. Sie kam einfach an. Das schon war erstaunlich. Vor siebzehn Jahren war M** eines von diesen Nestern im Südwesten von Frankreich, die Sie, wenn überhaupt, nur im Sommer kennen, weil die Ardèche und die Cevennen im Reiseführer stehen. Sie können da Kanu fahren und die malerischen Schluchten bewundern, es gibt Campingplätze, Badestellen, Wanderwege, Ziegenkäse, Honig und gutes Öl. Hotels gibt es kaum, denn sobald Sie weg sind, schließen sich diese Nester hinter Ihnen, drehen sich von der Welt weg, und im Herbst und Winter möchten Sie sie gar nicht kennen, also brauchen Sie kein Hotel, und die Nester brauchen schon gar keins. Sobald Sie weg sind, fängt es im September damit an, daß der Strom heruntergedreht wird und schwankt und man denkt, man ist im falschen Jahrhundert, weil man sein Haus nicht mehr hell bekommt. Die Handys haben keinen Empfang, Zentralheizung gibt es nicht, und wenn der Wind auf dem Schornstein steht, drückt er den Rauch des Kamins nach innen, die Kinder husten, und in der Nacht hustet das ganze Haus. Es ächzt und seufzt und macht schreckliche Geräusche. Diese Nester sind karstig und grau und trist und einer Überdosis Natur ausgeliefert, die sie nicht gut verkraften, und die Leute verkraften sie auch nicht. Sie glauben zwar nicht mehr an Werwölfe und Weiße Frauen, aber jeder kennt die Geschichten; jeder weiß, daß Jean Grin mit den roten Augen hier sein Unwesen getrieben und den Kindern die Leber aus dem Leib gerissen hat, und niemand läßt seine Kinder allein in die Schule und abends im Dunkeln nach Hause gehen, man fährt sie lieber die zweihundert Meter hin, sicher ist sicher. Wenn Sie in einem solchen Ort lebten, würden Sie auch vergessen, daß die Autobahn nur vierzig Kilometer entfernt ist und die Stadt gerade mal anderthalb Stunden, aber in M** wollen Sie gar nicht leben. M** liegt nicht einmal an der Eisenbahnlinie. Sie kennen Dörfer, die manchmal vorbeirauschen, wenn Sie mit dem Zug durch leere Gegenden fahren, die es nur auf der Landkarte gibt; sie rauschen vorbei, liegen herum wie ausgestorben, aber plötzlich gräbt jemand in seinem Garten mit dem Spaten die Erde um, oder eine Frau hängt Wäsche auf, und Sie denken etwas ungläubig: Hier kann man also auch leben, wovon leben die Leute hier?, nehmen sich wieder das Börsenblatt, und bis Sie in Hannover oder Lyon sind, haben Sie diese Dörfer vergessen. An M** rauschen Sie nicht einmal vorbei. In diesem M** also kommt vor siebzehn Jahren Frau Choi an, um dort zu leben. Kurz zuvor ist das Schild 'zu verkaufen' verschwunden, das gut ein Jahr lang an dem Haus neben dem 'Café du Marché' gehangen hatte, und im Café haben die alten Männer Gesprächsstoff gehabt und neugierig darauf gewartet, wer da wohl einziehen mochte, sie jedenfalls machten drei Kreuze, daß sie da nicht einziehen mußten, und dann zieht die Chinesin ein und lernt als erstes Yolande kennen. Yolande kommt nicht von hier. Sie ist zugeheiratet. Sie ist die Frau von Yves, dem die Nußbäume gehören, die Ölmühle und im Sommer der Campingplatz. Yolande sitzt eines Tages in der Herbstsonne auf ihrer Terrasse und hat gerade einen Erdbeerbaumfalter fotografiert, der ihr in ihrer Sammlung noch fehlt. Hinter ihrem Haus fangen der Wald und der Berg an, und eigentlich gehen inzwischen nur noch ein paar alte Leute in den Wald, morgens, mit dem Hund und zum Pilzesammeln in der Schlucht hinter der Grotte. Da kommt plötzlich eine recht junge Frau mit einem großen Korb vorbei, die Yolande nicht kennt, und wie die Frau unten am Weg hochschaut und sieht, daß jemand auf der Terrasse ist, winkt sie, und Yolande winkt hinunter, und die andere Frau bleibt stehen und winkt weiter. Schönes Wetter, ruft sie vielleicht hoch oder so etwas Ähnliches, und schließlich ruft Yolande hinunter: Möchten Sie einen Kaffee mit mir trinken?, und so kommt die F
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