Beschreibung
Das anschauliche Porträt einer der bedeutendsten deutschen Malerinnen Paula Modersohn-Becker: eine Frau und Künstlerin zwischen gesellschaftlichen Zwängen und künstlerischem Freiheitsdrang.Als Vorläuferin und Wegbereiterin der modernen Malerei in Europa gehört Paula Modersohn-Becker (1876-1907) zu den außergewöhnlichen Persönlichkeiten der Kunstgeschichte am Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Originalität und Größe erst heute richtig erkannt werden. Tochter aus bürgerlichem Haus, verheiratet mit dem bekannten Landschaftsmaler Otto Modersohn (1865-1943), befreundet unter anderem mit Rainer Maria Rilke und der Bildhauerin Clara Westhoff, pendelnd zwischen den beiden Polen Worpswede und Paris, wo sie sich von den spätantiken Mumienportraits im Louvre ebenso anregen ließ wie von Cézanne, Gauguin und van Gogh, rang sie stets um ihre Freiheit - als Künstlerin und als Frau. In ihrer jetzt neu bearbeiteten und erweiterten, mit Briefen und Tagebuchaufzeichnungen dokumentierten Biografie zeichnet Marina Bohlmann-Modersohn die menschliche und künstlerische Entwicklung der Malerin nach, die mit ihren monumentalen Mutter und Kind-Kompositionen und revolutionären Selbstakten aus den Pariser Jahren 1906/07 ihrer Zeit kühn voraus eilte. Anhand von reichem, teilweise unbekanntem Quellenmaterial schildert die Autorin die Höhen und Tiefen eines kurzen, aber ungeheuer intensiven Lebens, das nach der Geburt eines Kindes endete und beleuchtet schließlich - in einem hundert Jahre umspannenden Blick zurück - die wechselvollen Wege und Stationen der öffentlichen Wahrnehmung von Werk und Person Paula Modersohn-Beckers nach ihrem Tod. Aktualisierte und ergänzte Neuausgabe zum 100. Todestag am 20. November 2007. Ausstattung: 16 Seiten Fototeil
Autorenportrait
Marina Bohlmann-Modersohn ist in Bremen geboren und arbeitete nach ihrem Studium an der Sorbonne für die Pariser Redaktion des 'Spiegel'. Langjährige Arbeitsaufenthalte führten sie nach London, München und Hamburg. Marina Bohlmann-Modersohn ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt heute als freie Autorin bei Bremen.
Leseprobe
Dresden-Friedrichstadt und die Schwachhauser Chaussee in Bremen 1876 1892 Der 8. Februar 1876 war ein stürmischer Tag. Das königliche Dresden lag unter dunklen, schnell dahinziehenden Wolken, schwere Schauer wechselten mit Schneegestöber. Schon seit Tagen war die Elbe vom Sturm aufgewühlt. Eisschollen trieben an ihren Ufern entlang. Das Hochwasser - man konnte es den Wasserstandsanzeigen auf der Königin-Carola-Brücke entnehmen - stieg bedrohlich. Rund um die Uhr war Carl Woldemar Becker damit beschäftigt, seinen Leuten Anweisungen zu geben, wie die erst vor kurzem unter seiner Leitung fertiggestellten Bahndämme am Fluß zu schützen seien, die aufgrund des heftigen Wellenschlags an manchen Stellen bereits einzubrechen drohten. Die Lage war heikel. Nicht nur große Summen standen auf dem Spiel, sondern auch der Ruf Carl Woldemar Beckers als Bau- und Betriebsinspektor der Berlin-Dresdener Eisenbahngesellschaft. In der Wohnung der Familie Becker im ersten Stock des Hauses in der Schäferstraße 42/Ecke Menageriestraße in Dresden-Friedrichstadt wartete die dreiundzwanzigjährige Mathilde Becker unterdessen auf die Geburt ihres dritten Kindes. Die Wehen hatten schon vor Mitternacht eingesetzt und waren in den frühen Morgenstunden so stark geworden, daß die werdende Mutter glaubte, jeden Moment könne das Kind kommen. Pausenlos rüttelte der Sturm an den Fenstern des Eckhauses. Die kleine Flamme in der gläsernen Petroleumlampe flackerte unruhig. Wann nur würde es endlich vorbei sein? Um kurz vor elf Uhr mittags war es soweit: Mathilde Becker brachte ein Mädchen zur Welt. Sein Name: Minna Hermine Paula. Ungern hatte Carl Woldemar Becker seine Frau in dieser Situation allein gelassen. Sein Blick beim Abschied war sorgenvoll gewesen, ängstlich fast. Zwar kümmerte sich eine Pflegerin um die junge Wöchnerin, aber sie war ungeschickt und der dramatischen Lage so wenig gewachsen, daß Mathilde Becker die Anwesenheit dieser Frau eher lästig als hilfreich empfand und den Augenblick herbeisehnte, da ihr Mann wieder bei ihr wäre. Nur wenige Tage nach der Entbindung verspürte die junge Mutter plötzlich einen starken Schmerz in der rechten Brust. Sie bekam hohes Fieber. Der Hausarzt diagnostizierte eine Brustentzündung. Die Geburt ihrer Tochter Paula war die einzige ihrer insgesamt sieben Geburten, von der sich Mathilde Becker erst ein halbes Jahr später erholen sollte. Noch im Geburtsjahr des Kindes, das am 17. April vom Diakon Frommhold der Friedrichstädter Matthäuskirche in seinem Elternhaus getauft wurde, verließen Carl Woldemar und Mathilde Becker die Schäferstraße und zogen in die nahegelegene Friedrichstraße in das Haus Nr. 46 um, das der Witwe des sächsischen Ingenieurs Professor Johann Andreas Schubert gehörte. Besonders schön war es in diesem Viertel nicht. Industrieunternehmen begannen sich anzusiedeln. Erst kürzlich war die Friedrichstadt zum Fabrikbezirk erklärt worden. In den Erdgeschossen der alten, mehrstöckigen Häuser hatten Schuster und Schneider, Drechsler und Eisengießer ihre Werkstätten, Metzger und Möbelhändler ihre Läden. Nur vereinzelt fand sich ein bürgerliches Haus. Aber von seiner geräumigen Dienstwohnung in der Friedrichstraße hatte es Carl Woldemar Becker nicht weit bis an seinen Arbeitsplatz, denn Friedrichstadt war der Spezialbahnhof der Eisenbahnlinie Berlin-Dresden mit einem Güter- und Rangierbahnhof und einem Ausbesserungswerk. Es war ein großes Gelände mit breiten Gleisanlagen. Lokomotiven pfiffen schrill, Lastkarren rumpelten über die Bahnsteige. Ununterbrochen dröhnten die Hammerschläge der Werkleute. Von der eisernen, vom Ruß der Schlote und Züge geschwärzten Eisenbahnbrücke hatte man einen weiten Blick: Drüben, im Südosten, hob sich die Silhouette der königlichen Residenzstadt Dresden gegen den lichtblauen Himmel ab. Türme und Kuppeln, Brücken und Terrassenanlagen. Das Schloß, Kirchen, Museen und ein prächtiges Hoftheater. 'Blühe, deutsches Florenz, mit deinen Schätzen der Kunstwelt! Stille gesichert Leseprobe