In 1-2 Werktagen im Laden

Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442470310
Sprache: Deutsch
Umfang: 315 S.
Format (T/L/B): 2.4 x 18.8 x 11.8 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Wie aus dem kleinen Bruder Frank der große Herr Lehmann wurde BerlinKreuzberg, November 1980: Im Schatten der Mauer gedeiht ein Paralleluniversum voller Künstler, Hausbesetzer, Kneipenbesitzer, Kneipenbesucher, Hunde und Punks. Bier, Standpunkte, Reden, Verräterschweine, alles ist da. Nur eines fehlt: jemand, der alles mal richtig durchdenkt Frank Lehmann aus Bremen. Nachdem dessen WG dort vom Gesundheitsamt geschlossen wurde, macht Frank sich auf nach Berlin zu seinem großen Bruder Manni. Doch der ist verschwunden. Es beginnt eine abenteuerliche Suche quer durch die nächtliche Stadt.Sven Regeners dritter großer HerrLehmannRoman, chronologisch zwischen Neue Vahr Süd und Herr Lehmann angeordnet.

Autorenportrait

Sven Regener, 1961 in Bremen geboren, lebt in Berlin und ist Sänger, Texter und Trompeter der Band Element of Crime, die mit Alben wie "Damals hinterm Mond" und "Weißes Papier" große Popularität erlangte. Sein Debütroman "Herr Lehmann" stürmte auf Anhieb die Bestsellerliste. Mehr als 700.000 Kinobesucher sahen sich die Verfilmung dieses Bestsellers an. Für das Drehbuch erhielt Sven Regener 2004 den Deutschen Filmpreis in Gold. Mit "Neue Vahr Süd" konnte der Autor seinen sensationellen literarischen Erfolg fortführen.

Leseprobe

Irgendwann war es so dunkel, daß Wolli schwieg. Frank Lehmann bemerkte das erst gar nicht, weil er schon lange nicht mehr hinhörte, schon kurz hinter der Grenze bei Helmstedt hatte er die Ohren auf Durchzug gestellt und sich aufs Fahren konzentriert, vor allem darauf, die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h nicht zu überschreiten, denn das war ja schon Wollis Hauptthema zwischen Bremen und Hannover gewesen, daß die einen fertigmachen würden, wenn sie einen dabei erwischten, wie man ihre Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h ignorierte, das hatte, allein schon durch die Sturheit, mit der Wolli dieses Thema zwischen Achim und Allertal in einem unaufhörlichen Redefluß wieder und wieder zu Tode geritten hatte, irgendwann dann doch Eindruck auf Frank gemacht, nicht so sehr, daß er Wollis Erzählungen, die immer Erzählungen von Leuten wiedergaben, die Leute kannten, denen das Erzählte einst widerfahren war, und die zusammengefaßt darauf hinausliefen, daß ein allzu sorgloser rechter Fuß sie direkt in den Gulag bringen würde, für wirklich bare Münze genommen hätte, aber er war immerhin so weit davon eingeschüchtert, daß er um seine Ersparnisse zu fürchten begann, jene paar hundert Mark, die er von seinem Postsparbuch ab gehoben hatte, um nach Berlin zu seinem Bruder zu fahren und ein neues Leben anzufangen, denn das war sein Plan. Kein besonders ausgefeilter Plan, dachte er gerade, als Wolli aufhörte zu reden und sie gemeinsam schweigend in das sehr dunkle Dunkel der Transitstrecke durch die DDR starrten, hat ein paar Schönheitsfehler, der Plan, dachte er, aber dann fiel ihm auf, daß Wolli nicht mehr redete, und die Stille hatte, zusammen mit der sie umgebenden Finsternis, eine beruhigende, einlullende Wirkung, der er sich gerne hingab. Scheiß drauf, ob der Plan Schönheitsfehler hat, dachte er, Hauptsache, es ist mal Ruhe im Schiff, und dann sah er nur noch der Straße dabei zu, wie sie sich in das funzlige Licht seiner Scheinwerfer schob wie ein alter, harter Teppich. Leider hatte er keinen Vordermann mehr, dem er folgen konnte, der letzte war vor einer Viertelstunde abgebogen in das Land um sie herum, von dem man nichts sah oder hörte, und Wolli hatte sich danach noch eine Weile darüber ausgelassen, daß das ein Trabant gewesen sei und was das zu bedeuten habe und so weiter und so fort, aber wenigstens war dieser Trabant, wenn es denn einer gewesen war, nicht so schnell gewesen, daß Frank ihn hatte ziehen lassen müssen wie all die anderen Autos, die sie in der Zwischenzeit überholt hatten, der Trabant hatte genau die richtige, risikoarme, von Wolli dringend empfohlene Geschwindigkeit gehabt, und er hatte sie sicher durch die Finsternis geführt. Nun war er fort, aber dafür hielt Wolli mal die Klappe, und das war doch auch schon was, fand Frank. Das ging etwa fünf Minuten so, draußen war alles dunkel und drinnen war es still, wenn man vom gleichmäßigen Röhren von Franks altem Kadett einmal absah. Das waren fünf spannende Minuten, denn Frank konnte direkt spüren, wie sich in Wolli der Druck aufbaute, etwas zu sagen, und wie er zugleich davor zurückschreckte, das Schweigen zu durchbrechen, wie dieses Schweigen also unter Wollis innerem Druck immer mehr anschwoll wie ein Ballon, den ein maßloses Kind manisch aufpustete und der jeden Moment platzen mußte, so daß man die Augen zusammenkniff, das Gesicht verzog und in den Schultern verkrampfte in Erwartung des Knalls, so kam ihm, Frank, das jedenfalls vor während dieser fünf Minuten schweigender Fahrt durch die von keinerlei Licht in der Landschaft gemilderte Dunkelheit, die sie mit knapp hundert Sachen durchröhrten, das sind ganz schön neurotische Gedanken, dachte er, Kinder, Luftballons, schlimm, dachte er, aber was Wunder, wenn man seit Stunden durch Wollis Gelaber zermürbt wird, dachte er, so sehr zermürbt, daß man es sich zurückwünscht, wenn es aufhört, das kennt man sonst nur von Geiseln, die sich irgendwann mit ihren Geiselnehmern identifizieren, dachte er, Patty H Leseprobe