Beschreibung
Eine untergegangene Stadt - die Perle der Ostsee ...
Vineta, im 12. Jahrhundert: Die Perle der Ostsee - eine stolze, reiche Stadt voller Gegensätze. Hier wachsen die Zwillinge Warti und Bole als Söhne eines vermögenden Bernsteinhändlers heran. Als ihr Vater bei einem Schiffsunglück ertrinkt, tritt Warti als der Ältere das Erbe an, während Bole sich als Fischhändler verdingt. Nach einer verheerenden Sturmflut, die Bole um Hab und Gut bringt, heuert er als Spitzel für den verfeindeten dänischen Hof an. Die Rivalität der Brüder droht zu eskalieren, als Bole sich zu Wartis schöner Frau Natalia hingezogen fühlt. Und ihr Kampf um Liebe und Einfluss soll zu einem Ringen um Leben und Tod für die ganze Stadt werden ...
Ein packender historischer Roman über das sagenumwobene, stolze Vineta - das ''Atlantis der Ostsee'', um das sich noch heute viele Spekulationen ranken!
Autorenportrait
Charlotte Lyne, geboren 1965 in Berlin, studierte Germanistik, Latein, Anglistik und Italienische Literatur in Berlin, Neapel und London. Ihren Großeltern aus Riga und Danzig verdankt sie ihre Verbundenheit mit der Ostsee und die Leidenschaft für deren Ge
Leseprobe
November 1125
Mit der Dämmerung war es kalt geworden. Die Regenpfützen in den Mulden des blank geschorenen Feldes erstarrten rasch zu Eis. Natalia rannte. Ihre Sohlen trommelten wie Dreschflegel auf die froststarre Erde. Die Arme hielt sie, statt sie im Lauftakt zu schwingen, um den Leib geschlungen. 'Umarmst du dich selbst?', hätte die Mutter sie mit einem Lachen gefragt. Vor Anstrengung brauste Natalia das Blut in den Ohren, übertönte den pfeifenden Wind.
Aus dem Wald herausgerodet lag das Fleckchen Land, das ihr Vater seinen kargen Acker nannte. 'Von den paar Scheffeln Roggen krieg ich weder Mensch noch Viehzeug satt', pflegte er zu wettern, ehe er mit den Brüdern aufbrach, um seine Fallen zu leeren oder im Sumpfland Torf zu stechen. Den Schwestern trug er auf, in den Astlöchern der Zeideler nach Resten von Bienenwachs zu stochern, und an diesem Tag hatte er auch sie, Natalia, mit fünf Jahren seine Jüngste, zu einer Aufgabe ausgeschickt.
Im Dickicht des Waldes sollte sie nach Bucheckern suchen, um das Schwein im Verschlag damit zu füttern. Natalia hatte gehofft, dabei ein paar Hände voll süßer Beeren aufzuspüren, doch es war zu spät im Jahr, die Sträucher im Unterholz längst kahl. Als das letzte Licht verblich, waren ihre Finger von der Kälte so steif, als müssten sie beim Krümmen splittern wie die morschen Zweige.
Natalia lief schneller, wenn auch die Eisluft ihr schmerzhaft in die Lungen schnitt. Schon kam die Hütte in Sicht. Kein Rauch stieg auf, denn das Feuerholz war knapp. Drinnen aber würde der Atem vieler Menschen Wärme verbreiten, auf dem Tisch stünde die noch kaum erkaltete Suppe, und der Oheim Luka, den der Vater einen Nichtsnutz schimpfte, würde mit seinem kehligen Lachen Not und Sorgen zur Tür hinausscheuchen.
Natalia hörte ihre Eltern oft von Sorgen reden. Solche Gespräche gehörten zu ihrem Leben wie die Hühner, die in der Morgenkälte gefüttert werden mussten, wie die Wanzenbisse in den Nächten, die Knüffe der Brüder und der Spott der Schwestern, aber in diesem Herbst hatte sich etwas verändert, war bedrohlicher, schwerer geworden ... Die Stimme des Vaters schien bei jedem Wort hinterherzuschleifen, als sei er schon ein Greis und könne seine Last nicht länger tragen. Der Oheim Luka, Mutters Bruder, versuchte, das Dunkle mit einer Handbewegung wegzustreifen. 'Wir haben's immer geschafft, warum soll's diesmal anders sein?'
'Weil uns die Ernte ersoffen ist, Nichtsnutz. Aus leeren Händen gibt sich schlecht noch was ab.'
'Ach, das wird schon. Mokosch, die goldrote Mutter Erde, hilft dem Tüchtigen.'
Der Oheim lachte, und der Vater schlug mit einem Strick nach ihm. 'Dann hilft sie dir gewiss als Letztem, und meine schuldlosen Kinder müssen für deine Faulheit mit dran glauben.'
Ein andermal hörte Natalia den Oheim davon munkeln, dass der Fürst in Kiew, der große Wladimir Monomach, gestorben sei. 'In der Stadt wird's Aufhebens geben.'
'In der Stadt gibt's immer Aufhebens', knurrte der Vater zurück. 'Aber für uns Bauern ist das einerlei. Dieser oder jener auf dem Thron in Kiew, über unseren Köpfen tanzt die Knute des Bojaren.'
Der Bojar, das wusste Natalia, wohnte hinter dem Wald, hinter dem Ende ihrer Welt, in der großen Stadt Nowgorod. Ihre Familie war ihm leibeigen. Was das bedeutete, begriff sie nicht, nur, dass der Name des Bojaren Unheil beschwor, Erschrecken, tief bedrücktes Schweigen. Zweimal schon waren Männer in dunkelbraunen Röcken erschienen, die den Vater beschimpft, ihn an den Schultern gerüttelt und schließlich die Ziege am Strick gepackt und mit sich fortgezerrt hatten. Die Mutter hatte sich in den Winkel auf den Boden gehockt und heiser geweint. 'Wer sind die?', hatte Natalia ihre älteste Schwester Nona gefragt.
'Die Eintreiber. Die holen sich, was dem Bojaren gehört.'
Warum dem Bojaren die Ziege gehörte, die in ihrer Hütte hauste und deren Milch die Mutter allmorgendlich in den Kessel ...