Die Anderen

Roman

Auch erhältlich als:
24,00 €
(inkl. MwSt.)
In den Warenkorb

Nicht lieferbar

Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783036958330
Sprache: Deutsch
Umfang: 432 S.
Format (T/L/B): 2.8 x 19.1 x 12.6 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Als ihr Vater eines Nachts vor seinem Diner in der kalifornischen Wüste angefahren und getötet wird, glaubt Nora nicht an einen Unfall. Gemeinsam mit Jeremy, einem alten Schulfreund, stellt sie Nachforschungen an und stößt dabei auf Dinge, die ihren Vater in komplett neuem Licht zeigen. Was hatte er zu verbergen? Und was hat das mit seinem Tod zu tun?

Autorenportrait

Laila Lalami wurde in Rabat geboren und hat in Marokko, Großbritannien und den Vereinigten Staaten studiert. Sie ist Pulitzer-Preis-Finalistin und Autorin von vier Romanen und zahlreichen Essays, die u. a. im Guardian und der New York Times erschienen sind. Die Anderen stand auf der Shortlist des National Book Award. Laila Lalami ist Professorin für Kreatives Schreiben an der University of California und lebt in Los Angeles. Michaela Grabinger hat für Kein & Aber u. a. mehrere Romane von Elif Shafak, Helen Simpson sowie Anne Tyler übersetzt.

Leseprobe

Nora Mein Vater wurde in einer Frühlingsnacht vor vier Jahren getötet, während ich in der Ecknische eines kurz zuvor eröffneten Bistros in Oakland saß. Wann immer ich an jenen Augenblick denke, sehe ich diese beiden miteinander völlig unvereinbaren Bilder vor mir: mein Vater nach Luft ringend auf dem rissigen Asphalt und ich beim Champagnertrinken mit meiner Mitbewohnerin Margo. Wir feierten, weil die Jerome Foundation Margo ein Stipendium gewahrt hatte, damit sie ein neues Kammermusikstuck komponieren konnte. Es war für sie bereits die zweite große finanzielle Zuwendung in diesem Jahr. Wir hatten Miesmuscheln bestellt, teilten uns ein Hauptgericht und ließen es ziemlich spät werden. Als der Kellner uns zu einer Mousse au Chocolat als Dessert zu überreden versuchte, klingelte mein Handy.An alles Folgende habe ich keine deutliche Erinnerung. Offenbar teilte ich Margo die Nachricht mit. Offenbar zahlten wir, zogen unsere Mantel an und legten die fünf Häuserblocks zwischen dem Bistro und unserer Wohnung zu Fus zurück. Irgendwie muss ich es geschafft haben, eine Reisetasche zu packen. Die Fahrt nach Hau- se auf dem Freeway 5 und das neblige Dunkel, das die Mandel- und Orangenplantagen verhüllte, sind mir dagegen ebenso klar in Erinnerung geblieben wie die ständig wechselnden Erklärungen, die ich mir auf dieser Fahrt zusammenträumte: Vielleicht hatte die Polizei die Leiche falsch identifiziert oder das Krankenhaus die Patientenakte meines Vaters mit einer anderen verwechselt. Obwohl das weit hergeholt war, klammerte ich mich daran. Trotz des Scheinwerferlichts konnte ich nicht mehr als sechs Meter weit sehen, doch im Morgengrauen lichtete sich der Nebel, und als ich die Mojave erreichte, war die Sonne aufgegangen und der Himmel strahlend blau.Beim Betreten meines Elternhauses war nur das Klappern meiner Absätze auf dem Travertinboden zu hören. Auf dem Tischchen beim Eingang lagen ein Readers Digest, ein gelbes Kunststoffarmband, an dem mehrere Schlüssel hingen, und eine Sonnenbrille, der ein Glas fehlte. Eine der gerahmten Fotografien an der Dielenwand hing schief. Meine Mutter saß auf dem Wohnzimmersofa und starrte das schnurlose Telefon in ihrer Hand an, als hatte sie verlernt, es zu bedienen. Ich rief Mom?, aber sie blickte nicht auf. Als konnte sie mich nicht hören. Sie trug noch das weiße T-Shirt und den schwarzen Gi vom Karatetraining am Abend zuvor. Auf dem Polsterhocker lag ihre achtlos hingeworfene Trainingsjacke. Der Drache am Ruckenteil leuchtete knallrot.Damals kam es mir vor, als lebte mein Vater noch - wegen der halb leeren Marlboro-Packung auf dem Fensterbrett, der abgenutzten Pantoffeln unter dem Couchtisch und der Nagespuren am Kugelschreiber, der aus dem Kreuzworträtselbuch herauslugte. Jeden Moment wurde er, nach Kaffee und Hamburgern riechend, hereinkommen und sagen: Du glaubst gar nicht, was mir ein Gast heute erzählt hat! Dann wurde er mich neben dem Sessel stehen sehen und rufen: Nora! Seit wann bist du da? Seine Augen wurden vor Freude strahlen, seine Bartstoppeln wurden mich kitzeln, wenn er mich auf beide Wangen küsste, und ich wurde erwidern: Gerade erst angekommen.Doch niemand erschien in der Tür, und der Schmerz fuhr mir wie eine Faust in den Magen. Ich verstehe das nicht, sagte ich und meinte damit, dass ich es nicht fassen konnte. Fassungslosigkeit war das einzige konstante Gefühl gewesen, seit ich die Nachricht erhalten hatte. Ich habe doch gestern noch mit ihm telefoniert.Endlich regte sich meine Mutter und wandte mir ihr Gesicht zu. Ihre Augen waren rot gerändert, ihre Lippen rissig. Du hast mit ihm telefoniert?, fragte sie überrascht. Was hat er gesagt?In der Diele klapperte die Abdeckung am Briefschlitz, und mit dumpfem Knall landete die Post auf dem Boden. Die Katze in ihrem Weidenkorb hob kurz den Kopf; dann schlief sie weiter. Was hat er gesagt?, fragte meine Mutter noch einmal.Nichts. Er wollte nur ein bisschen plaudern, aber ich musste in den Unterricht zurück und wollte mir vorher noch einen Kaffee holen. Ich habe ihm gesagt, dass ich zurückrufe. Meine Hand flog an meinen Mund. Ich hatte d gerufen? Wie lange hatte er auf dem Asphalt gelegen, bis sein Atem schwacher wurde? Plötzlich fiel mir die Party bei unseren Nachbarn ein, als ich vier war. Sie hatten ihren Garten umgestaltet und prahlten vor meinen Eltern mit der neuen Grillstelle und der neuen Sitzlandschaft. Meine Schwester hatte keine Lust, sich mit mir abzugeben, sie wollte lieber mit den älteren Kindern spielen. Ich jagte zwei Libellen hinterher, und als ich eine mit der Hand zu fangen versuchte, fiel ich in den Pool. Das Wasser war eiskalt und schmeckte nach Mandeln. Es zog mich mit solcher Kraft nach unten, dass ich meinen letzten Atemzug kommen sah. Es dauerte nur eine Sekunde, bis mir mein Vater nachsprang, doch in dieser einen Sekunde erstarrten meine Arme und Beine, meine Brust brannte, und mein Herz blieb fast stehen. Diesen Schmerz empfand ich jetzt wieder. Irgendwas stimmt da nicht, sagte ich nach einer Weile. Da geht Dad ein einziges Mal als Letzter und wird überfahren und getötet?Ich bemerkte zu spät, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. Meine Mutter begann zu weinen. Das heftige, halt lose Schluchzen trieb ihr das Blut ins Gesicht und lies ihre Schultern beben. Ich ging durchs Wohnzimmer, räumte den eingerollten Gebetsteppich aus dem Weg, setzte mich zu ihr und hielt sie so fest, dass ich ihre Zuckungen spurte. Alles an der Situation fühlte sich falsch an - dass ich an einem Werktag im Frühling in diesem Haus war, dass ich meine Schuhe anbehalten hatte, sogar dass ich meine weinende Mutter tröstete. Bei uns war mein Vater der Tröster. Immer wenn mir etwas zugestoßen war, ging ich als Erstes zu ihm - ob als Achtjährige mit meinen aufgeschürften Knien oder, wie erst im Monat zuvor, weil ich wieder einmal einen Kompositionswettbewerb verloren hatte.Meine Mutter schnäuzte sich mit einem zerknitterten Taschentuch. Als ich von deiner Schwester zurückgekommen bin, war mir schon klar, dass etwas nicht stimmt. Ich habe ihr Karate-Aufnäher für die Kinder gebracht, und sie hat mich gefragt, ob ich zum Abendessen bleibe. Danach kam ich nach Hause, und er war nicht da.Auf dem Sessel, in dem mein Vater immer saß, war noch der Abdruck seines Körpers zu sehen. Als ware er nur kurz ins Nebenzimmer gegangen.Was hat die Polizei gesagt?, fragte ich.Gibt es irgendwelche Hinweise? Nein. Die Frau von der Polizei hat mir nur eine Menge Fragen gestellt. Ob er Geldprobleme hatte, ob er Drogen genommen, gespielt oder Feinde gehabt hat. Solche Sachen. Ich habe Nein gesagt.Die Fragen verwunderten mich, weil sie so anders waren als das, was mir durch den Kopf ging: Wer hatte am Steuer des Wagens gesessen, wie war mein Vater angefahren worden und warum die Fahrerflucht? Ich blickte aus dem Fenster und sah, wie sich zwei Amseln nacheinander auf die Stromleitung setzten. Der Nachbar von gegenüber lies die Luft aus dem riesigen Osterhasen, der wochenlang in seinem Vorgarten g...