Schnell ist klar, was auch der Klappentext als verhängnisvolle Konstellation andeutet: Mehar verliebt sich in den Bruder, der nicht ihr Mann ist. Und umgekehrt. Während wir einerseits ihrem reglementierten, zunehmend gefährlichen Alltag folgen, erinnert sich ihr Urgroßenkel: Mit 18 Jahren und stark heroinabhängig macht er am gleichen Ort einen Entzug. Sehr präsent sind dabei Szenen der rassistischen Gewalt, die Mehars Nachfahren erfahren, als sie aus Indien nach England kommen. Insbesondere an das tiefe, zum Himmel schreiend ungerechte Unglück des Vaters (Mehars Enkel), das den Sohn in die Sucht drängt.
Ein Art Hütte verbindet Urgroßmutter und -enkel, Gitterstäbe an den Fenster und das Gerücht, dass eine Braut dort eingesperrt leben musste. Dass sich die beiden Erzählebenen (1929 und ca. 70 Jahre später) abwechseln, erhöht die Spannung und entsprechend das Lesetempo. In angenehmem Kontrast dazu steht Sunjev Sahotas sensuelle Sprache, die übertragen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann auf alle Reize wirkt: Ich hatte das Gefühl, den Stoff von Mehar Schleier zu spüren und die in satten Farben und detailliert gezeichnete Umgebung nicht nur klar vor Augen; ich konnte quasi hören, wie der Wind durch die Felder raschelt, ein staubiges Kitzeln in der Nase.
Der Roman hätte für mich noch mehr in die Tiefe gehen können, insbesondere was das Innere der Figuren und ihre Beziehungen angeht. Gleichzeitig wäre es dann auch ein weniger kurzweiliger Roman gewesen, ein Pluspunkt, denn so hatte ich Raum, mich parallel z.B. über die Indische Unabhängigkeitsbewegung zu informieren, die auf Mehars Ebene immer wieder erwähnt wird.