“Wenn Menschen die Gelegenheit bekommen, andere zu quälen, werden sie es tun. Wenn sie die Gelegenheit bekommen, dem anderen etwas wegzunehmen, werden sie es tun.”
Mit dieser Aussage, die bereits auf Seite 17 zu finden ist, bekommt die Leserschaft einen KLEINEN Vorgeschmack auf das, was sie auf den folgenden 617 Seiten eventuell erwarten könnte.
“GRM”, also “GRIME”, ist in erster Linie die Geschichte von Don, Karen, Hannah und Peter, die bereits als hoffnungslose Fälle ins hoffnungslose Rochdale hineingeboren wurden, absolut nichts vom Leben erwarten und feststellen müssen, dass sie dennoch immer und immer wieder noch mehr enttäuscht werden. Von ihren Eltern, ihren Geschwistern, ihrer Umgebung, einander. Es ist aber auch unsere Geschichte, die Geschichte der Welt, in der wir leben bzw., wenn die aktuellen politischen und technischen Entwicklungen konsequent wei-tergeführt werden, die Geschichte der Dystopie, in der wir in kürzester Zeit tatsächlich leben werden. Eine Geschichte, in der Menschen klassifiziert werden nach Herkunft, Sexualität, Konsumverhalten, Verwertbarkeit und Produktivität. Wer durchs Raster fällt, wird ersetzt. Zunächst nach den Prinzipien des Sozialdarwinismus durch einen “besseren Menschen” oder gleich durch Maschinen, künstliche Intelligenzen oder Drohnen.
Sibylle Berg macht es einem nicht leicht mit diesem Buch. Im Gegenteil, sie macht es einem schwer. Weil sie Recht hat. Weil sie einen auf jeder Seite mindestens einmal mental und emotional an Grenzen bringt, nur um diese Grenzen zwei Seiten weiter erneut auszudehnen, um sie schließlich ganz zu sprengen. Vermutlich muss jede*r Leser*in es mindestens einmal, eher öfter, kurz zur Seite legen, weil es einfach “way too much” ist, nur um es ein paar Minuten später wieder in die Hand zu nehmen, weil der Sog, den Berg kreiert, einfach unwiderstehlich ist.
Kurz: Sibylle Berg ist mit „GRM“ (Untertitel: „Brainfuck“) ein Meisterwerk gelungen, ein sprachlich und inhaltlich grandioses, kraftvolles, auf jeder Ebene überbordendes und überforderndes Buch. Ob es ein Roman ist, wird sich in den nächsten Jahren zeigen ...