Beschreibung
Der Begriff des Lebens hat in weiten Teilen der akademischen Philosophie des 20. Jahrhunderts keine zentrale Rolle gespielt. Nachdem ihn die Lebensphilosophie vor allem als Gegensatz zur Vernunft exponiert hatte, wurde er von der europäischen und amerikanischen Philosophie weitgehend den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, überlassen. Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt hat in den letzten drei Jahrzehnten demgegenüber an die begründende Rolle des Lebens in der Philosophie seit Platon erinnert und gezeigt, dass alle menschlichen Leistungen, so auch das philosophische Denken, nur unter der Bedingung des Lebens zu begreifen sind. Auch wenn sie als Symbolsysteme, soziale Praktiken, ästhetische Formen, rechtliche Institutionen oder politische Ordnungen eine Realität sui generis gewinnen, bleiben sie durch die lebendige Dynamik von Bedürfnissen und Interessen bestimmt. So kann, wie Gerhardt in seinen historischen und systematischen Studien vorgeführt hat, auch die Vernunft selbst als Funktion des Lebens verstanden werden. Volker Gerhardt, der u. a. in Münster, Köln und Halle lehrte, bevor er 1992 auf die Professur für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an die Humboldt-Universität berufen wurde, untersuchte zunächst die Philosophie des Lebens insbesondere bei Kant und Nietzsche. Mit seiner 1999 erschienenen "Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität" entwarf er daran anschließend eine Ethik der Individualität, die sich auf die Erfahrung des eigenen Lebens gründet. Ihr folgte mit der "Individualität. Das Element der Welt" (2000) eine Theorie der individuellen Erscheinungsform alles Lebendigen in Natur und Kultur. Die "Partizipation. Das Prinzip der Politik" (2007) setzte das systematische Werk Gerhardts in Bezug auf die Politik fort, indem sie den historischen Übergang von der Natur zur gesellschaftlichen Lebensform und zur politischen Organisation in seiner Kontinuität nachzeichnet und die fundamentale Einbettung der gesamten menschlichen Organisationsleistungen in die Prozesse des Lebens aufzeigt. Die zum 65. Geburtstag Volker Gerhardts herausgegebene Festgabe seiner Schüler, Mitarbeiter und Kollegen versammelt mehr als 50 kürzere Essays, die unterschiedliche Dimensionen des Lebensbegriffs historisch und systematisch untersuchen und sich der Frage nach dem Leben in philosophischer Perspektivenvielfalt annähern. Neben Studien zu Platon, Aristoteles, Hobbes, Whitehead, Wittgenstein, Cassirer, Ritter oder Arendt werden vor allem Kants, Nietzsches und Gerhardts Denken unter dem Gesichtspunkt des Lebens reflektiert. Darüber hinaus präsentiert der Band Untersuchungen über biopolitische Probleme sowie über den Zusammenhang von Leben und Philosophie, Politik, Öffentlichkeit, Ethik und Liebe, über die organische und gesellschaftliche Organisation des Lebens, seine Erfahrungsdimensionen und die interne Verbindung des Lebendigen zur Kunst.
Inhalt
Inhalt: S. Springmann, Leben als Machtorganisation. Ein Antwortversuch auf die Frage nach dem Lebendigen - A. Trautsch, Wie ist es, lebendig zu sein? Über die Selbsterfahrung gesteigerten Lebens - A. Breitenbach, Die Frage nach dem Lebendigen in Zeiten biowissenschaftlichen Fortschritts - N. Loukidelis, Zu Nietzsches Begriff vom menschlichen Leben - F. Martinsen, Das gute Leben = das vernünftige Leben = das politische Leben? - J. Karl, Zwischen Sterblich- und Unsterblichkeit. Eine platonische Antwort auf die Frage nach dem Leben - K. Lehmann, Leben als verantwortliches Individuum - M. Riccardi, Geist und Leben - J. Boldt, Neomikroben. Leben als Produkt der synthetischen Biologie - R. Fonseca, Die Naturgeschichte der Ethik. Leben und Selbstbestimmung bei Volker Gerhardt - N. S. Miras Boronat, Perspektiven und Formen des Lebens. Nietzsche und Wittgenstein - H. von Sass, Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens. Über religiösen Glauben und metaphysische Ausflüchte - S. Hegenbart, Brauchen wir Ideen zum Leben? Autonomes Denken und Urteilen als essenzielle Fähigkeiten des Philosophen - J. Thumfart, Kant und Nietzsche gegen Darwin. Zur ideengeschichtlichen Rekonstruktion des modernen Lebensbegriffes - P. Janosfalvi, Bedingungen und Strukturmerkmale der aus der Not geborenen Mittelpunktslage. Interpretation des Begriffs des Lebens von Volker Gerhardt durch eine vergleichende Analyse - A. C. da Costa e Fonseca, Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen und Kants kategorischer Imperativ als praktische Imperative für unterschiedliche Lebensformen - S. Jollivet, Das radikale Jasagen zum Leben. Oder wie das Denken am Leben bleibt - N. Belzer, John Ford. Leben im Film - I. Touras, Das Leben im Spiegel des Menschenverstandes - S. Jain, Leben ist, wo das Herz schlägt - T. Gloyna, Weisheit Asiens Tag für Tag. Aus dem Leben: ein Telefonat - S. Yuanzhao, Das Leben des Menschen ist eine Darstellung - F. Battaglia, Geist als das belebende Prinzip im Menschen - R. Villinger, Lebensgefühl. Notiz zu einem Begriff aus der Analytik des Schönen - O. Thorndike, Life and Reason in Kant's Practical Philosophy - M. Kartheininger, Philosophie des Lebens. Skizze und historische Perspektivierung einer Problemstellung - M. Schweda, Bürgerliches Leben und praktische Philosophie. Zu Joachim Ritters Deutung des aristotelischen "bios politikos" - J. Prause-Stamm, Alle Philosophie ist Lebensphilosophie - U. Miksch, Wie der Philosophie in Berlins Mitte neues Leben zuwuchs - E. Lehnert, In der Festung: Leben im Verborgenen? - M. Iven, "Werde, der du bist!" Fragen an das Leben in der digitalen Welt - U. P. Jauch, Über die allmähliche Vertreibung des Lebens (und der Philosophie) aus dem erkenntnisoptimierten Binnenraum der spätmodernen Hohen Schule - M. Trifunovic, Das politische Leben und das Leben des Politischen - H. Sederström, Leben als Tätigsein. Zum Begriff des Lebens bei Hannah Arendt - W. McClelland Dunlavey, "Vivre c'est essayer": Montaignes "Philosophie heißt Sterben lernen" - U. Bittner, Amo, ergo sum. Die Liebe als Ausdruck und konstitutives Merkmal personalen Lebens - M. Perrakis, Leben: Der Versuch, die Zeit musikalisch zu gestalten - C. Vogel, Leben macht den Unterschied - O. Müller, Technik als Methode des Lebens. Eine Überlegung mit Ernst Cassirer - N. Wloka, Politik und Leben. Oder: Warum das Selbstbestimmungsrecht dem Menschen für die gesamte Zeit seines Lebens zukommt - H. Hahn, Homo Cosmopoliticus. Skizze zu einem Programm politischer Anthropologie in weltbürgerlicher Absicht - P. Ruch, Hobbes' Antwort. Die Seele, der Ruhm und die "Haltung des Krieges" - R. Pasquare, Lebendige Natur oder künstliches Werk: die Metaphern des politischen Lebens im abendländischen Denken - S. Rohmer, "The Art of Life". Zu Alfred North Whiteheads Deutung des Lebens als Kunst - U. Ziegler, Leben als Bildung. Eine platonische Perspektive - J. Sombetzki, Exemplarität als Streben. Entwurf einer Konkretisierung des Lebensbegriffs in Anlehnung an Volker Gerhardts ...